40 Jahre Anlauf für die IV

(Walliser Bote)

Olten: 100 Jahre Pro Infirmis: Als Handicapierte noch «Anormale» hiessen


Plakataktion. Hilfsorganisation Pro Infirmis macht mit einer Plakatausstellung in verschiedenenStädten der Schweiz auf ihr Anliegen aufmerksam. Foto vom 27. Februar 1979 in Zürich. GestalterRobert Siebald, Präsident, alt Bundesrat Ernst Brugger und Fotograf Peter Huber (von links).FOTO KEYSTONE

 

Vor 100 Jahren wurde in Olten eine Organisationmit dem haarsträubenden Namen «Schweizerische Vereinigung für Anormale» (SVfA) gegründet. Es gibt sie noch heute. Seit 1935 heisst sie Pro Infirmis.
IRENE WIDMER, SDA

Dem Begriff «anormal» ist die Ausgrenzung eingeschrieben,denn nur das «Normale» war jahrhundertelang gottgewollt.In der Antike durften Väter mit Mängel behaftete Kinder aussetzen oder töten lassen. Und noch Luther empfahl, «Wechselbälger» – behinderte Babys,welche der Teufel mit gesunden ausgewechselt hatte – zu ersäufen, da sie nur seelenloses Fleisch («massa carnis») seien.

Bewunderte «Krüppel» gab es zwar immer schon: Hephaistos, der griechische Gott des Feuers, war gehbehindert, aufeinem Auge blind und entstellt.Trotzdem wurde er als Schmied von den Göttern geschätzt. Auch die einäugigen Zyklopen waren nützlich, beispielsweise weil sie Blitze schmiedeten für Zeus. Ebenfalls halb blind und dennoch mächtig war der nordische Hauptgott Odin. Und der armlose Kunstschreiber Thomas Schweicker war im 16. Jahrhundert eine Legende,ebenso wie 200 Jahre später der taube Beethoven.

Von Menschen, die früher vom herzlosen Volk «Krüppel»,«Idioten», «Kretins» oder Blödsinnige» genannt wurden,unterschieden sich diese «Superbehinderten» vor allem dadurch, dass sie integriert waren- etwas, was sich auch die Pro Infirmis auf die Fahne geschrieben hat: «Pro Infirmis ist die grösste Fachorganisation der Schweiz für Menschen mit einer Behinderung und setzt sich für eine inklusive Gesellschaft ein», weiss Wikipedia.

Über 40 Jahre Anlauf für die IV

Die vor 100 Jahren gegründete SVfA war ursprünglich der Dachverband von verschiedenen in der Behindertenfürsorge tätige Gruppen und sollte Vorstösse auf Bundesebene und das Sammelwesen koordinieren. Während der Industrialisierung hatten sich die kleinen Behindertenorganisationen vermehrt: Kinderarbeit und schlechte Arbeitsbedingungen brachten neue Beeinträchtigungen hervor, während gleichzeitig Grossfamilien, in deren Schoss Behinderte gut aufgehoben waren,auseinanderfielen.

In Fabriken, Gewerbevereinen und einzelnen Quartieren wurden solidarische Kranken-, Invaliden- und Sterbekassen eingerichtet, die behinderte Mitglieder finanziell unterstützten. Der Ruf nach einer übergeordneten Invalidenversicherung (IV) wurde laut. Tatsächlich wurde das Traktandum 1919 im Parlament erörtert, doch die Finanzierung war strittig, die Pläne gingen bachab. Immerhin entrichtete der Bund ab 1923 der Pro Infirmis Subventionen,mit denen sie die Bedingungen in den Behinderteneinrichtungen verbesserte.

Im Mai 1925 lehnte das Schweizer Stimmvolk eine Volksinitiative für eine Invaliditäts-, Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV)ab,stimmte aber ein halbes Jahr später einem Verfassungsartikel zu, der dem Bund erlaubte,eine Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) auszuarbeiten – unter Vorbehalt der Realisierung einer IV zu einem späteren Zeitpunkt. Doch bis dahin sollte es noch 35 Jahre dauern.

Zuerst Beratungen,später auch Geld

Inzwischen arbeitete die SVfA / Pro Infirmis schon mal vor.1929 wurden erste Beratungsstellen eröffnet, 1943 gab es schweizweit schon deren elf,heute sind es um die 50.

Mit dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung 1960 veränderte sich die Rolle von Pro Infirmis. 1966, bei Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Ergänzungsleistungen, erhielt die Pro Infirmis Subventionen,um auch finanzielle Leistungenan Menschen mit Behinderung (FLB) zu entrichten. Pro Infirmis setzt sich seither für eine bessere Betreuung von behinderten Menschen durch die Invalidenversicherung und insbesondere für Eingliederungsmassnahmen ein. Seit den 1990er-Jahren forderte sie wiederholt eine bessere Integration und die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Mit der Verabschiedung des Behindertengleichstellungsgesetzes 2004 war das teilweise erreicht.

Man lernt nie aus

Die Finanzierung der Dienstleistungen erfolgt zu rund 60 Prozent über Leistungen der öffentlichen Hand und zu 40 Prozent aus privaten Mitteln.

Jährlich führt Pro Infirmis gemäss Jahresbericht 245 000 Beratungen durch. Sie richtet 15,8 Millionen Franken Direkthilfe aus, ermöglicht knapp 1000 Menschen begleitetes Wohnen, entlastet während 90 000 Stunden Angehörige und vermittelt in «Bildungsklubs» jährlich Wissen an 2700 Personen. In «Wohnschulen»lernen zudem zwei Dutzend Leute, wie man selbstständig haushaltet. Und in «Büros für Leichte Sprache» in Zürich,Freiburg und Bellinzona werden jährlich 1400 Stunden lang
Texte entwirrt.