Alles, was ihr über Angststörungen wissen müsst

(friday-magazine.ch)

Immer mehr Celebs erzählen von ihrer Angststörung. Doch was ist das eigentlich für eine Krankheit? Wir haben bei der Expertin nachgefragt.

Von: Marie Hettich

Seit Franziska Seyboldt 12 ist, ist die Angst ihr ständiger Begleiter – beim Arzt, beim Fliegen, in der U-Bahn, aber auch manchmal, wenn sie in einem gemütlichen Café sitzt. In ihrem neuen Buch „Rattatatam, mein Herz“ erzählt die deutsche Autorin ihre Angstgeschichte – und in ihrer Geschichte werden sich unzählige Menschen wiedererkennen. Denn allein in der Schweiz leiden laut Pro Infirmis rund 800’000 Menschen an einer Angststörung – also jeder Zehnte. Frauen sind doppelt so häufig betroffen.

Die Krankheit der Millennials?

Auch Celebs machen aus ihrer Angst immer seltener ein Geheimnis: Lena Dunham war 2014 eine der ersten, die die psychische Krankheit in aller Öffentlickeit thematisierte. Selena Gomez und Zayn Malik mussten aufgrund heftiger Panikattacken Konzerte absagen, Kendall Jenner bekannte sich letztes Jahr in „Keeping up with the Kardashians“ zu ihrer Angststörung, die sie manchmal die ganze Nacht nicht einschlafen lässt.

Angst wird als die Krankheit der Millennials beschrieben – vor allem in den USA kursiert der Begriff „Generation Anxiety“. Doch kann man wirklich von einer ganzen Generation sprechen? Woran erkennt man, ob die eigene Angst noch in einem normalen Rahmen oder schon krankhaft ist? Und woran liegt es, dass Frauen viel häufiger an einer Angststörung erkranken? Wir haben mit Dr. Annette Brühl von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich gesprochen.

Frau Brühl, wovor haben Menschen mit einer Angststörung eigentlich Angst? Oft vor etwas sehr Konkretem: vor Spinnen oder Menschenmassen zum Beispiel. Da kommt dann aber noch die Angst vor der Angst hinzu: Man beginnt, Orte zu meiden, in denen die Angst – auch in Form einer Panikattacke – auftauchen könnte. Im Falle der Spinne also zum Beispiel den Keller.

Wie kann es passieren, dass einem eine kleine Spinne plötzlich so viel Angst bereitet? Die Spinne wird im Kopf aufgebauscht – vor dem inneren Auge ist sie plötzlich riesig und gefährlich. Personen mit Höhenangst schätzen die Höhe im Vergleich zu Gesunden auch völlig verzerrt ein – der Abgrund ist um ein Vielfaches tiefer als er tatsächlich ist.

Woran merke ich, ob meine Angst noch normal oder schon krank ist? Vor allem an den Vermeidungsstrategien und Einschränkungen im Alltag. Wenn ich mich abends um 18 Uhr am rappelvollen HB nicht wohlfühle, ist das keine Angststörung. Wenn ich die Situation dort allerdings so sehr fürchte, dass ich einen grossen Bogen um den HB mache und morgens und abends eine ganze Stunde extra Fahrzeit in Kauf nehme, ist das ein Problem.

Gibt es Ihrer Meinung nach die Generation Anxiety, von der vor allem in den USA die Rede ist? Mit solchen verallgemeinernden Begriffen bin ich vorsichtig. Aber der Druck, etwas Besonderes zu sein, und damit auch die Angst vor dem Versagen, ist bei den Jugendlichen heute definitiv stärker ausgeprägt als früher. Unglaubliche 90% aller Eltern halten ihre Kinder heutzutage für hochbegabt – diese Riesenerwartungen muss man erst einmal erfüllen können!

Kann auch Social Media eine Angststörung auslösen? Eine Studie hat erst kürzlich ergeben, dass Menschen, die viel in den Sozialen Medien unterwegs sind, ein grösseres Risiko haben, an einer Depression oder Angststörung zu erkranken. Aber auch hier muss man fragen: Wer verbringt eigentlich so viel Zeit am Smartphone? Sind das vielleicht nicht sowieso vor allem Menschen, die zu Depressionen und Angststörungen neigen?

Woran liegt es, dass Frauen häufiger betroffen sind? Das ist noch nicht komplett erforscht. Entweder liegt es daran, dass Frauen wirklich anfälliger für Angststörungen sind – oder aber daran, dass sie einfach schneller Hilfe in Anspruch nehmen und Männer hingegen länger die Zähne zusammenbeissen.

Aber dann wären im Endeffekt ja genauso viele Männer in Behandlung? Naja, Männer versuchen häufig, ihre Ängste mit Alkohol zu bekämpfen – und sind dann schlussendlich nicht wegen der Angst in Behandlung, sondern wegen ihrer Alkoholsucht.

Und wenn wir davon ausgehen, dass Frauen anfälliger sind: Womit könnte das zu tun haben? Hormone könnten eine Rolle spielen – das sieht man ja auch an Stimmungsschwankungen im Zyklus. Dabei muss man aber klar sagen, dass Frauen nicht – wie früher angenommen – von Natur aus emotionaler sind. Sogar das Gegenteil konnte nachgewiesen werden: Männerhirne reagieren zum Teil stärker auf verschiedene emotionale Trigger.

Welche Rolle spielt die Erziehung bei der Angst? Jungs gehen häufig mit ihrer Angst von klein auf konfrontativer um, weil sie oft Sätze wie „Stell dich nicht so an“ oder „Sei ein tapferer Junge“ zu hören bekommen. Mädchen hingegen wird eher gesagt „Ach du Armes, das ist ja völlig verständlich, dass du Angst hast!“

Wenn die Eltern extrem ängstlich sind – kann sich das auf das Kind übertragen? Normalerweise übernimmt der Vater ja den – sagen wir mal – wilderen Elternpart: er tobt mit dem Kind herum, wirft es auch mal hoch, und so weiter. Wenn er aber sehr vorsichtig ist, lernt das Kind: Weil meine beiden Eltern nicht mutig und spielerisch auf Situationen zugehen, sollte ich das lieber auch nicht tun. Zumindest bei Menschen, die die Veranlagung mit sich bringen, kann so eine Angststörung entstehen.

Also ist es, wie so oft, auch eine Frage der Veranlagung? Absolut. Schon bei drei- bis vierjährigen Kindern kann man sehen, wer eher vorsichtig und ängstlich ist – und das ist dann ganz klar angeboren.

PD Dr. med. Annette Brühl leitet an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich das Zentrum für Depressionen, Angsterkrankungen und Psychotherapie.