Angehörige sollen für Betreuungsarbeit entschädigt werden

(Berner Zeitung / Ausgabe Stadt+Region Bern)

Neues Behindertenkonzept
Das neue Gesetz gibt Betroffenen mehr Mitsprache. Es geht jetzt in die Vernehmlassung.
Quentin Schlapbach

Mehr Selbstbestimmung, mehr Eigenverantwortung, mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – mit diesen Prämissen verabschiedete der Kanton Bern im Jahr 2011 sein neues Behindertenkonzept. Menschen mit einer Behinderung sollten demnach grundsätzlich mehr Freiheiten erhalten, gerade auch bei der Wahl ihres Wohn- und Betreuungsortes.

Die im Behindertenkonzept festgehaltenen Grundsätze versuchen die Behörden seither auch rechtlich zu verankern,nämlich im neuen Gesetz über die Leistungen für Menschen mit Behinderungen (BLG). Bei der Finanzierung will der Kanton Bern einen völlig neuen Weg einschlagen: Das Geld sollen künftig nicht mehr die Behindertenheime erhalten, sondern die betroffenen Personen selbst. Sie können dann eigens bestimmen, ob sie in einer Institution oder zu Hause mit Hilfe von Angehörigen oder Assistenzpersonen leben wollen.

Es gibt ein Kostendach

Neun Jahre samt einem Pilotversuch mit über 600 Direktbetroffenen hat es nun aber gedauert,bis Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg (SVP) gestern Montag das neu erarbeitete BLG in die Vernehmlassung schicken konnte. Der Grund, wieso die Gesetzesvorlage so lange reifen musste, sind die Kosten. Während des Pilotversuchs stellte sich heraus, dass das neue «Berner Modell» zu einer massiven Ausweitung der Anspruchsberechtigung führen würde.Ende 2018 bilanzierte der Kanton, dass bei einer flächendeckenden Anwendung des Pilotversuchs Mehrkosten von rund 100 Millionen Franken entstehen würden.

Die Gesundheitsdirektion musste deshalb in den letzten eineinhalb Jahren noch einmal über die Bücher gehen. Unter anderem wechselten die Behörden die Abklärungsmethode zur Ermittlung des Betreuungsbedarfs aus. Statt des eigens entwickelten Systems «Vibel» soll das bereits in den Kantonen Zug, Baselland und Basel-Stadt angewendete Abklärungsinstrument IHP («individueller Hilfeplan») eingesetzt werden. Die Mehrkosten, die das neue Modell verursacht, konnten somit auf 20 Millionen Franken gedrückt werden


«Künftig werden die Institutionen ihr Angebot nicht nur vor dem Kanton verantworten müssen.»

Pierre Alain Schnegg (SVP)Gesundheitsdirektordes Kantons Bern

Ab 30 Minuten pro Tag

Am Grundsatz, dass Menschen mit einer Behinderung künftig die Wahl haben, in welche Setting sie betreut werden wollen, rüttelte der Kanton aber nicht. Eine grosse Änderung hat dies insbesondere für Menschen zur Folge, die derzeit zu Hause von Angehörigen betreut werden. Diese Care-Arbeit von Familienmitgliedern wurde bisher finanziell nicht entschädigt. Mit dem neuen Gesetz soll sich dies ändern.

Voraussichtlich ab Januar 2023 soll jeder Fall individuell abgeklärt werden, wobei ein Leistungsanspruch und eine Kostengutsprache bestimmt werden. Mit diesem Budget kann die betroffene Person zusammen mit den Angehörigen das ideale Setting für sich selbst zusammenstellen. Der minimale Leistungsanspruch geht von einer Betreuung von 30 Minuten pro Tag aus.

Für die Betreuung von schwer behinderten Personen wird es ein Kostendach geben, auch wenn sie sich zu Hause pflegen lassen. Derzeit gehen die Behörden von maximal 800 Franken pro Tag aus, was den Massstäben der Leitung der Koordinations-und Beratungsstelle für äusserst anspruchsvolle Platzierungssituationen entspricht.

Gesetz ab 2023 in Kraft

Die Behörden erhoffen sich mit dem neuen Finanzierungsmodell auch frischen Wind bei den Behindertenheimen. «Künftig werden die Institutionen ihr Angebot nicht nur vor dem Kanton verantworten müssen», so Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg. «Sie müssen für einen Menschen mit Beeinträchtigung attraktiv sein.» So attraktiv, dass dieser Lust darauf habe, dort zu wohnen und sich betreuen zu lassen. Die Heime sollen so vermehrt zu KMU werden, die sich auf dem Markt mit ihren Angeboten behaupten müssen.

Zuerst geht das Gesetz nun aber in die Vernehmlassung, wo Parteien, Verbände, Institutionen und Direktbetroffene sich dazu äussern können. 2021 soll die Vorlage dann in den Grossen Rat kommen. Wenn alles rund läuft,sollen die neuen Regeln bei der Behindertenfinanzierung ab Januar 2023 in Kraft treten.


Menschen mit einer Beeinträchtigung sollen im Kanton Bern mehr zu sagen haben,wie sie leben und von wem sie betreut werden möchten. Foto: Keystone