«Arbeit stutzt den Selbstwert»

Gesellschaft / Interview mit Claudia Wyer-Niederberger zum
«Tag der Menschen mit Behinderung» vom 3. Dezember

OBERWALLIS Menschen mit Behinderung sollen möglichst selbstbestimmt leben und eine sinnvolle Tätigkeit aus üben können.

Frau Wyer, Sie leiten bei der Stiftung Emera die Sozialberatung für Menschen mit Behinderung (SMB) im Oberwallis. Was bringt Ihnen der «Tag der Menschen mit Behinderung»? «Es geht den im Bereich Behinderung tätigen Institutionen darum, auf die berechtigten Anliegen und Rechte unserer Klienten hinzuweisen.
Die Herausforderung ist, dass sie selbstbestimmter werden können. Dafür müssen sie die Mög lichkeit haben, sich zu äussern z.B. auch in den Medien.»

Wie viele Leute betrifft das bei uns ganz direkt?
«Im Oberwallis werden rund 850 Menschen mit einer Behinderung durch die SMB beraten. Ich gehe davon aus, dass das rund 10 Prozent sind. Längst nicht alle Menschen mit Behinderungen benötigen unsere Hilfe. Für die, die aber Rat brauchen, sind wir gerne da. Die SMB arbeitet vernetzt mit den spezialisierten Institutionen im Behindertenbereich und mit Procap Oberwallis.»

«Jede Situation anders» Was können Sie für jene tun, die Sie brauchen?
«Die Palette ist sehr breit. Jede ist je nach Behinde rungsart und Kompetenzen des Klienten verschieden. Familiäres Umfeld und soziales Netzwerk spielen dabei eine grosse Rolle. Menschen mit physischen Behinderungen sind etwa froh um vernetzende Hilfe bei einem Wohnungsumbau, solche mit psychischen Krankheiten dankbar bei der Unterstützung für eine Platzierung. Oft sind unsere Klienten auch dankbar, wenn man sie in den administrativen Aufgaben unterstützt. Bei geistig Behinderten haben wir mehr mit den Eltern zu tun. Da geht es etwa um unterstützende Beratung, beispielsweise, um eine Behinderung anzunehmen.

Sie sind seit 26 Jahren in diesem Bereich tätig. Was hat sich in dieser Zeit verändert?
«Vieles. Und zwar zum Besseren. Aus dem ersten kantonalen Behindertengesetz 1992 entstand die politische Machbarkeit. Konzeptionelle Planung führte von den bereits bestehenden Angeboten zu verbesserten Eingliederungsmassnahmen in Form von adäquaten Plätzen in geschützten Wohngruppen, Werkstätten und Ateliers bis zur integrativen Sonderschulung. Das Wallis nahm bei diesem Aufbau im interkantonalen Vergleich eine Pionierrolle wahr. Unter dem damaligen Leiter der Dienststelle für Sozialwesen (DSW), Simon Darioli, wurde wegweisende Arbeit geleistet.»

«Entscheidend ist, dass die Betroffenen selber mitreden können
(Claudia Wyer-Niederberger)
Das heutige Angebot stimmt also?
«Die Integration in Schule, Beruf und Arbeit macht ständig Fortschritte. Jede Situation liegt anders. Entscheidend ist, dass die Direktbetroffenen selber mitreden – und auch etwas ausprobieren können.»

In der Arbeitswelt dürfte das schwierig sein.
«Oft müssen unsere Klienten die Arbeit annehmen, die da ist.
Die Auswahlmöglichkeit ist begrenzt. In Städten und Agglomerationen hat es sicher mehr Möglichkeiten als bei uns imOberwallis.»

«Alle wollen wertgeschätzt werden»
Was wünschen Sie sich von potenziellen Arbeitgebern?
«Das Bewusstsein, dass Arbeit für Menschen mit Behinderung extrem wichtig ist. Eine sinnvolle Tätigkeit ist für deren Selbstwert zentral. Alle wollen wertgeschätzt werden und ihren Beitrag an eine funktionierende Gesellschaft leisten. Ich kann also Arbeitgeber nur ermutigen, Beschäftigungen anzubieten und Menschen mit Behinderung eine Chance zu geben.»

Was können Sie dabei tun?
«Gute Informationsarbeit leisten, Berührungsängste abbauen. Und den Chefs empfehlen, nicht gleich bei der ersten Schwierigkeit aufzugeben. Es braucht eine permanente Gesprächsbereitschaft. Dabei bin ich mir bewusst, dass Menschen mit Behinderung nicht die Leistung erbringen können wie gesunde Arbeitnehmer. Betroffene Arbeitnehmer sind in den meisten Fällen aber mit grossem Engagement an ihrer Arbeit. Ihr Handicap verlangt von ihnen dabei zusätzliche Energie – eine enorme Leistung.»

Wo sehen Sie einen Gewinn für den Arbeitgeber?
«Die Erfahrung zeigt, dass es ein besonderes Engagement braucht. Es kann aber auch sehr dankbar und erfüllend sein, jemand konkret zu helfen. Der Umgang mit handicapierten Menschen muss letztlich gelebt werden. Was man nicht wegdis- kutieren kann. Psychische Einschränkungen sind im Arbeitsalltag schwieriger zu handhaben als physische.»

«Die Gesellschaft reagiert recht offen»
Was liesse sich verbessern?
«Arbeitgeber, die Menschen mit einer Behinderung persönlich kennen, sind für das Thema offener. Junge Menschen auch. Deshalb wünsche ich mir, dass bereits in der Schule mehr getan wird. Ein jährlicher Thementag wäre ein grosser Fortschritt. Ich stelle auch fest, dass
Kindern mit Behinderungen geholfen wird, dagegen die Bedürfnisse von Kindern mit z. B. psychisch erkrankten Eltern oft vergessen werden.»

Wie benimmt sich die Gesellschaft im Umgang mit Menschen mit Behinderung?
«Recht offen. In unserer Region hilft da sicher die Überschaubarkeit. Man kennt einander. Die Barrieren für Kontakte liegen tiefer als etwa in der Anonymität einer Stadt.»

Ist die Unterstützung seitens der Politik genügend?
«Der gesetzliche Rahmen steht. Der Kanton hilft im Rahmen seiner Möglichkeiten. Die Sozialarbeit der SMB hat hier relativ gute Konditionen. Können wir ein Anliegen gut begründen, werden wir wenn möglich unterstützt. Für dieses Verständnis verdient die zuständige Staatsrätin Esther Waeber-Kalbermatten ein grosses Lob. Ich hoffe, dass sich das durch Sparübungen nicht verändert. Rein materiell gesehen geht es Menschen mit einer Behinderung in den meisten Fällen besser als Sozialhilfebezügern.»

«Das Wallis nimmt die Betreuung ernst»
Wo steht das Wallis bei der Behindertenbetreuung im nationalen Vergleich?
«Unser Kanton nimmt den Umgang mit Menschen mit Behinderung ernst. Andere Kantone sehen diese Arbeit noch weniger prioritär.»

Und wo steht die Schweiz international?
«Es gibt sicher noch fortschritt- lichere Länder. In Holland etwa ist das Thema Selbstbestimmung sehr wichtig, in einigen europäischen Ländern können die in der UN-Behinderten rechtskonvention definierten Rechte sogar eingeklagt werden. Die Schweiz wartete bis zur Unterschrift der Konvention länger. Nun geht es an die Umsetzung, wozu eine nationale Koordination sicher sehr hilfreich wäre.»

Interview: tr

«Tag der Menschen mit Behinderung»
Der 3. Dezember gilt international als Tag, an dem die Gesellschaft an die besonderen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung erinnert wird. Im Mittelpunkt steht der Gedanke, dass Würde, persönliche Rechte und Wohlergehen jeden Menschen betreffen. Der künftige Fokus liegt auf der beruflichen Eingliederung. Gemäss Bundesamt für Statistik sind 72 Prozent der Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt aktiv. Bei den Menschen ohne Behinderung macht dieser Anteil 85 Prozent aus.
Der «Tag der Menschen mit Behinderung» wurde von der UNO am 3. Dezember 1992 initiiert und 2003 erstmals gefeiert. Schon 1981 war von der UNO das Jahr der Behinderten ausge- rufen worden. Seit 2006 organisiert im Oberwallis eine Arbeitsgruppe mit Vertretern von Insieme Oberwallis, Atelier Manus, Schlosshotel Leuk, der Stiftung Emera und der HES-SO jeweils Aktivitäten zu diesem Tag

Das Recht auf Arbeit
Ein entscheidendes Anliegen der Menschen mit Behinderung
ist das Recht auf Arbeit. Dieses wird ihnen in Artikel 27 («Arbeitund Beschäftigung») der UN-Behindertenrechtskonvention zugesprochen. Die Vertragsstaaten, darunter die Schweiz, verpflichten sich, Diskriminierungen in der Arbeitswelt gegenüberMenschen mit Behinderung zu verbieten. Dazu zählt unter anderem das gleiche Entgelt für gleichwertige Arbeit.
1992 wurde in der Schweiz ein Behindertengesetz geschaffen, zehn Jahre später folgte das Behindertengleichstellungsgesetz. Für die Umsetzung sind seit 2008 weitgehend die Kantone verantwortlich. Der Bund hat diese Aufgabe im Rahmen der Neugestaltung des NFA an die Kantone delegiert.
Das «Recht auf Arbeit – auch mit Behinderung», ist und bleibt eine theoretische Forderung. In der Praxis fehlen oft die Beschäftigungsmöglichkeiten. Dies trotz Unterstützung durch verschiedene soziale Hilfseinrichtungen. In einer zentralen Funktion ist dabei die Invalidenversicherung. Im Oberwallis werden Menschen mit Behinderung durch Institutionen wie Emera, Insieme Oberwallis, Atelier Manus, Fux campagna und Schlosshotel unterstützt. Massgeblich bleibt die Bereitschaft der Arbeitgeber, auf dem ersten Arbeitsmarkt Menschen mit Behinderungen eine Chance zu geben.

Gesellschaft / Visper Weihnachtsmarkt zugunsten behinderter Mitmenschen Im Zeichen der Solidarität VISP Die 29. Auflage des Visper Weihnachtsmarktes fand zugunsten behinderter Mitmenschen statt. Jung und Alt traf sich auf dem Kaufplatz in Visp. Der Erlös des nicht kommerziellen Marktes fliesst vollumfänglich Behindertenorganisationen im Oberwallis zu.

Die Stimmung war herzlich, die Solidarität greifbar. Besucherinnen und Besucher kamen aus dem ganzen Oberwallis. Das OK dankt im Namen der Oberwalliser Behinderten aus gan- zem Herzen. Der OK-Präsident des traditionellen, nicht kommerziellen Weihnachtsmarktes, Hans Keller, zeigte sich am Samstagabend zufrieden: «Die Stimmung am Markt war wie immer sehr herzlich, das Wetter ideal. Da es ja um einen guten Zweck geht und sich viele Menschen engagieren, entsteht so etwas wie eine grosse Familie. Ich danke allen Besucherinnen und Besuchern, die mit ihrer Anwesenheit behinderte Mitmenschen in grosszügiger Weise unterstützt haben. Der Markt ist einfach etwas
Besonderes!»

Seit vielen Jahren dabei
Ob am Kuchenstand, als Kuchenlieferantin, Raclettestreicher, Polentaschöpferin, Marronibrater, Bastlerin, Lismerin oder Geschirrabräumerin, Abzeichenverkäufer, Kranzverkäuferin, Kranzmacherin – viele ungenannte Menschen arbeiten Jahr für Jahr in einer bestimmten Funktion am Markt. Ein grosses Gemein- schaftswerk, geprägt von Solidarität mit den behinderten Mitmenschen. Der OK-Präsident Hans Keller: «Mein Dank geht auch an die zahl- reichen Musik- und Unterhaltungsgruppen sowie an die vielen Helferinnen und Helfer sowie an die Sponsoren.» wb

Source: WalliserBote