„Auch diese Menschen haben eine Meinung“

(WirEltern)

Genf hat als erster Kanton in der Schweiz Menschen mit einer geistigen oder psychischen Beeinträchtigung das kantonale Stimm- und Wahlrecht erteilt. Felicitas Huggenberger, Direktorin von Pro Infirmis, erklärt, warum dieser Schritt wichtig ist für die Betroffenen, ihre Familien. Und für die Gesellschaft.

Interview Anita Zulauf

wir eitern: Felicitas Huggenberger,was bedeutet der Entscheid der Genfer Bevölkerung für betroffene Menschen?
Felicitas Huggenberger: Die 75 Prozent Ja-Stimmen sind ein Meilenstein und eine klare Botschaft an uns alle. Auch Menschen mit einer geistigen oder psychischen Beeinträchtigung haben eine eigene Meinung und sollen politisch aktiv sein können, wenn sie das wollen.

Ein wichtiger Schritt, längst überfällig?
Ja. Nicht an Abstimmungen und Wahlen teilnehmen zu können, ist diskriminierend. Denkt man an Menschen mit Beeinträchtigungen, denkt man schnell an Grenzen, an Unvermögen. Die Genfer Bevölkerung traut ihnen jedoch zu, ihre Meinung ausdrücken zu können. Ein wichtiger Schritt in Richtung einer inklusiven Gesellschaft.

Mit dem passiven Wahl-und Stimmrecht dürfen Betroffene in Genf nun auch für ein öffentliches Amt kandidieren.
Das ist in Bezug auf die Partizipation ein sehr wichtiges Signal. Wir unterstützen zusammen mit verschiedenen Organisationen Menschen, die ein politisches Amt übernehmen möchten in Form von Schulungen und finanzieller Unterstützung für den Wahlkampf. Mehr Diversität und auch mehr Menschen mit Behinderungen in politischen Ämtern wäre wünschenswert.

Wie realistisch wäre eine solche Kandidatur?
Da bisher diese Bürger*innen vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen waren, stellten sich die Fragen nicht, welche Voraussetzungen für Kandidaturen notwendig sind. Es wird also Aufgabe der Gesellschaft und der Politik sein, die bisherigen Hürden zu beseitigen und die notwendigen Entwicklungen einzuleiten, um die Kandidaturen zu ermöglichen. Kandidierende und Gewählte in ihren Funktionen müssten etwa auf Assistenzleistungen zählen können.


«Nicht am politischen Leben teilhaben zu können, ist diskriminierend»

 

Zum Beispiel?
Je nach Behinderungsart braucht es spezielle Unterstützung. Für Blinde oder Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen müssten die Unterlagen entsprechend aufbereitet sein.Eine Person im Rollstuhl dagegen müsste barrierefrei ans Rednerpult gelangen können, sie bräuchte andere Assistenzleistungen.

In allen anderen Kantonen sind Menschen mit «geistiger oder psychischer Beeinträchtigung und umfassender Beistandschaft» von diesem politischen Recht ausgeschlossen.
Was heisst das genau?

Das heisst, dass der betroffenen Person die Handlungs- und Urteilsfähigkeit in ihren Rechtsgeschäften fehlt und sie in eigenem Interesse auf Unterstützung eines Beistandes angewiesen ist. Das könnte zum Beispiel einen Menschen mit Trisomie 21 betreffen.Die Schlussfolgerung, deshalb auch politisch nicht partizipieren zu können, ist diskriminierend, da hier nicht dieselben Voraussetzungen eine Rolle spielen.

Was bedeutet die «psychische Beeinträchtigung»?
Das sind Personen, die über lange Zeit erhebliche, psychische Probleme haben und aufgrund dessen in ihrer Urteils- und Handlungsfähigkeit eingeschränkt sind. Werden hier umfassende Beistandschaften errichtet, wird ihnen das Wahl- und Stimmrecht aberkannt. Sie bekommen keine Unterlagen mehr.

Früher waren es Frauen, sozial Schwache,Zwangsversorgte und Trinker, die vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen wurden. 2021 gibt es in der Schweiz aktuell noch rund 14500 Menschen, denen man keine eigene Meinung zutraut. Man verweigert oder entzieht ihnen das demokratischste Recht überhaupt. Ein Affront?
Ganz klar. Man schliesst sie aus einem wesentlichen Teil des gesellschaftlichen Lebens aus, was die Integration erheblich erschwert.Die Kopplung der Beistandschaft und der politischen Rechte müssen getrennt werden.

Nun hat Genf einen ersten Schritt gemacht.Aber: Werden die Betroffenen überhaupt verstehen können, worum es bei Wahlen und Abstimmungen geht?
Die Abstimmungsvorlagen sind oft schwerver ständlich. Es braucht Unterlagen in einfacher Sprache. Das ist auch eine der Forderungen der Behindertenorganisationen anden Bund. Und was für Betroffene natürlich auch wichtig ist, sind der Austausch und die Diskussionen mit Menschen ihres Vertrauens, die ihnen beim Ausfüllen der Unterlagen helfen können.

Wer soll diese Hilfe gewähren?
Das ist individuell, die Betroffenen müssen das selbst entscheiden dürfen. Das kann auch in jedem Fall wieder jemand anders sein.

Gegner der Initiative befürchten Beeinflussung und Wahlbetrug.
Natürlich können Diskussionen die Meinungsbildung beeinflussen. Aber das geht uns ja allen so, nicht wahr? Auch gesunde Menschen haben oft nicht detaillierte Kenntnisse über den Inhalt einer Initiative oder können nicht in jedem Fall eine rationale Meinung bilden. Sie gehen trotzdem an die Urne.

Das ist das normale Risiko einer demokratischen Gesellschaft.
Genau.

Wie ist die gesellschaftliche Stellung vonMenschen mit Beeinträchtigungen in derSchweiz?
Auch heute noch erleben sie im Alltag Benachteiligungen und Diskriminierungen.Allerdings darf auch gesagt werden, dass die Sensibilisierung für die Anliegen von Menschen mit Behinderungen zugenommen hat. Der Genfer Entscheid ist bestes Beispiel dafür.

Welche Bedeutung haben solche Entwicklungen für Familien mit beeinträchtigten Kindern?
Die politischen Rechte für alle sind Teil des Mindsets, Teil des Umdenkens und der Haltung der Gesellschaft. Ich bin überzeugt,dass Offenheit einen wichtigen Einfluss hatauf Familien. Ihre Kinder werden als Teilder sozialen Gemeinschaft mit allen Rechten und Pflichten wahrgenommen. Genfer Kinder können nun am Tisch über Politik mitdiskutieren und wissen, dass sie dereinst werden mitbestimmen können. Ein gutes Gefühl für die ganze Familie, Eltern und Kinder werden klar gestärkt.

Wie reagiert die Gesellschaft heute auf Eltern, die auf pränatale Tests verzichtenoder ein Kind trotz Behinderung bekommen wollen?
Der Druck ist gewachsen. Die Frage «Habt ihr das nicht vorher gewusst?» hören manche Eltern immer noch, wenn sie ein Baby mit Beeinträchtigung bekommen haben. Es gibt aber auch Eltern mit guten Erfahrungen, die ein offenes Umfeld und keine Diskriminierung erleben. Mit welchen Schwierigkeiten sie jeweils zu kämpfen haben, ist von Familie zu Familie sehr individull.

Welche Ängste haben Eltern, die ein Kind mit einer entsprechenden Diagnose erwarten?
Auch hier ist das sehr individuell, darauf müssten die betroffenen Eltern antworten. Ängste können vielschichtig sein und viele Fragen auslösen, gesundheitliche, gesellschaftliche, versicherungsrechtliche, organisatorische. Andere Eltern wieder können es eher pragmatisch nehmen, warten mal ab, bis das Kind da ist, und schauen dann, was auf sie zukommt.


Felidtas Huggenberger (1970)ist Anwältin. Seit 2017 ist sie Direktorin von Pro Infirmis. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen im Kanton Zürich.

 

Wie sieht die Situation in Schweizer Kitas, Kindergärten und Schulen aus? Gibt es Angebote für diese Kinder?
Integrative und inklusive Kindergärten und Schulen sind Sache der Kantone und Gemeinden. Darum sind die Unterschiede in der Schweiz unfassbar gross. In einzelnen Kantonen ist die inklusive Schule Realität und es wird viel dafür gemacht, in anderen sind wir weit davon entfernt. Wichtig ist,dass genügend finanzielle Mittel eingesetzt werden. Es geht nicht, dass ein politischer Entscheid gefällt wird, ohne dass Lehrpersonen und Schulen genügend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.

«Die politischen Rechte für alle sind Teil des Umdenkensund der Haltung der Gesellschaft.»

Gibt es das Recht auf schulische Integration?
Das gibt es. Die Schweiz hat 2014 die UNO-Behindertenrechtskonventionen ratifiziert. Diese verlangt in Art. 29 das Recht auf Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben und in Art. 24 das Recht aufBildung. Menschen mit Beeinträchtigun-gen dürfen nicht aufgrund ihrer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden.

Kritiker monieren, dass gesunde Kinder im integrativen Schulsystem beim Lernen behindert würden.
Im Gegenteil. Es braucht ein differenziertes Bildungssystem, das allen Kindern die Möglichkeit gibt, ihre Stärken zu fördern.Ich bin überzeugt, dass alle profitieren könnten. Die selbstverständliche Teilhabe am Alltag von klein auf ist enorm wichtig.Je kleiner die Kinder sind, umso eher lernen sie einen unverkrampften Umgang miteinander. Die inklusive Gesellschaft wird für sie zum normalen Alltagsbild gehören. Platziert man betroffene Kinder in Sonderschulen, bleiben sie Sonderfälle.

Was aber, wenn die Kinder mit Beeinträchtigungen in der Schule irgendwann nicht mehr mithalten können?
Auf Oberstufen-Niveau kann es schwierig werden. Die Grundschulung aber ist machbar. Doch dazu braucht es entsprechende Ressourcen, Lehrpersonen können nicht zwölf Kindern auf unterschiedlichsten Niveaus gerecht werden. Und da sind wir wieder beim Geld. Es braucht den politischen Willen, aber es braucht auch den Willen der Schulen, der Pädagogen, der Eltern von anderen Schülern. Auch hier hat es viel mit der Haltung der Gesellschaft zu tun. Finden wir es erstrebenswert, wenn die Kinder von der Mitschülerin profitieren, die zwar nicht im Millionenraum rechnen kann, aber die ein grosses Herz hat und sehr sozial und kreativ ist? Oder zählt allein die Leistung? Auch gesunde Kinder können nicht alle studieren. Jedes Kind sollte einen Platz im System bekommen können mit den Fähigkeiten, die es hat.

Könnte der Genfer Entscheid eine Signalwirkung haben auf andere Kantone?
Da bin ich sicher. In den Westschweizer Kantonen ist man progressiver. Im Wallis,in Neuenburg, der Waadt, aber auch im Tessin laufen bereits ähnliche Vorstösse.In der Deutschschweiz gibt es auch entsprechende Signale.

Wie sieht die inklusive, politische Teilhabe in anderen Ländern Europas aus?
Schlecht. Nur gerade in acht Ländern können Betroffene ihre politischen Rechte ausüben.

Wo ist die inklusive Gesellschaft bereitsRealität?
Bei diesem Thema sind wir in Skandinavien, wo die gesellschaftliche Haltung in sozialen Bereichen bekannterweise fortschrittlicher ist. Wohnheime für Behinderte wurden etwa abgeschafft, weil man die Ghettoisierung nicht mehr wollte. Die Menschen leben in Wohngemeinschaften oder Kleingruppen in Wohnblocks, mitten unter Arbeitern, Familien und Studierenden. Mitten in der Gesellschaft und mitten im Leben. An solchen Modellen sollten auch wir arbeiten.