Auch Süchtige können künftig eine IV-Rente erhalten

(Neue Zürcher Zeitung)

Auch Süchtige können künftig eine IV-Rente erhalten
Suchterkrankungen sind wie psychische Erkrankungen zu beurteilen, eine Versicherungsleistung bei Arbeitsunfähigkeit ist nicht mehr ausgeschlossen

BARBLINATÖNDURY, LUZERN
Was war zuerst da: die Sucht oder eine vorangehende psychische Grunderkrankung? Bis gestern war diese Unterscheidung für den Bezug von Invalidenrenten bei Suchterkrankungen von entscheidender Bedeutung. Viele Jahre galt die Rechtsprechung, dass eine primäre Suchterkrankung selbstverschuldet sei und deshalb ungeachtet der konkreten Folgen prinzipiell nicht zu einer Invalidität und zu einem Anspruch auf Leistung der Invalidenversicherung führen könne. Diese umstrittene Praxis hat die zweite sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts in einem mutigen Leitentscheid aufgehoben. Neu sind Suchterkrankungen wie andere psychische Erkrankungen zu behandeln, und es ist abzuklären, ob sich die Suchtmittelabhängigkeit auf die Arbeitsfähigkeit der betroffenen Person auswirkt.

Ausgelöst hat das Grundsatzurteil ein 1975 geborener, von Benzodiazepinen und Opioiden abhängiger Mann,der sich 2012 bei der Invalidenversicherung zum Bezug einer Invalidenrente angemeldet hatte. Die IV-Stelle wie auch das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich verneinten einen Leistungsanspruch des Mannes. Sie stützten sich auf die bisherige Rechtsprechung wonach der Mann seine Sucht und damit seine Arbeitsunfähigkeit selbst vehuldet habe. Der Mann gelangte ans Bundesgericht, das die Beschwerde in – seinem am Montag veröffentlichten Urteil gutheisst und die IV-Stelle des Kantons Zürich verpflichtet, dem Mann rückwirkend ab 1. September 2013 eineganze Invalidenrente auszurichten.

Damit hat das Bundesgericht eine Kehrtwende vollzogen. Es legt dar, dass keine rechtliche Grundlage dafür besteht,das Herbeiführen einer Suchterkrankung durch den willentlichen Konsum von Suchtmitteln als Anlass zu nehmen, um eine Versicherungsleistung ohne weitere Abklärung zu verneinen. Auch auf medizinische Erkenntnisse, welche eine Suchterkrankung schon seit langem als ein krankheitswertiges Geschehen einstufen, geht das Gericht ein und anerkennt,dass es für einen Suchtmittelabhängigen schwierig ist und er «beträchtliche Ressourcen» mobilisieren muss, um dem Verlangen nach weiterem Konsum zu widerstehen. Deshalb dränge sich die gleiche Sichtweise auf wie bei anderen psychischen Störungen, und es sei nach strukturiertem Beweisverfahren (dazu BGE141 V 281) abzuklären, ob und wie weit sich das fachärztlich diagnostizierte Abhängigkeitssyndrom im Einzelfall auf die Arbeitsfähigkeit auswirke.

Die Richter betonen aber auch die Schadenminderungspflicht des Versicherten. Auch bei einem Abhängigkeitssyndrom sei der Versicherte verpflichtet, zur Minderung des Schadens beizutragen und an zumutbaren medizinischen Behandlungen teilzunehmen.Kommt der Versicherte dieser Pflicht nicht nach, erhält er also willentlich den krankhaften Zustand aufrecht, dann ist laut dem Bundesgericht eine Verweigerung oder Kürzung der Leistung möglich.

Im zu beurteilenden Fall kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass eine schrittweise Steigerung der Leistungsfähigkeit des suchtmittelabhängigen Mannes bei einer Weiterführung der Therapie mit kontrollierter Opioidabgabe und Benzodiazepinentzug möglich, aber nicht innert einer bestimmten Frist als überwiegend wahrscheinlich erscheint.Aus diesem Grund spricht ihm das Gericht die volle IV-Rente seit 2013 zu. Der Leistungsanspruch wird aber laut dem Urteil nach Durchführung der Behandlung durch die IV-Stelle zu gegebener Zeit revisionsweise zu überprüfen sein.
Urteil 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019