Barrierefreies Bauen nützt allen

(Basel Express)

Wir sorgen vor, planen, denken voraus, äufnen eine dritte Säule; bloss beim eigenen
Zuhause der mitunter wichtigsten Investition m Leben – geht der Vorsorgegedanke
häufig vergessen. Oft werden Wohnungen gekauft oder Häuser gebaut, welche später
zum Bumerang werden. Das müsste nicht sein.

Von:Andreas Käsermann Fotos Julien Selinas, Basel


Hindernisfrei wohnen im denkmalgeschützten Haus: Terrasse an der Rue des Baîches, Porrentry (JU)

 


Design uni garrieretreffielt vereint: Grosszügig gelöst an der Lichtstrasse Basel.

 

Die meisten Menschen sind irgendwann in ihrem Leben zeitweilig handicapiert Nach dem Beinbruch ist der Badewannenrmd ein schier unüberwindbares Hindernis; bricht man sich den Arm. wird gar das lapidare Binden der Schu- zur Herausforderung, an welcher manch einer grandios scheitert. Nach ein paar Wochen jedoch ist der Knochen heil und der Gedanke an die Unzulänglichkeiten des Körpers sowie dessen Gebrechlichkeit verflogen.

Dabei ist diese Lebenserfahrung Alltag für nicht wenige: In der Schweizleben gemäss Zahlen des Bundesamts für Statistik EFS über 1,8 Milhonen Menschen mit einer Behinderung – 484 000 davon mit einer starken Beeinträchtigung. Für sehr viele dieser Menschen sind auch die paar wenigen Treppenstufen zur Hochparterrewohnung ein Hindernis; die hohen Küchen- und Einbauschränke kein Gewinn.

Aber auch im Alter tauchen andere Ansprüche an die Wohnung au[ Und die Gruppe wächst: Ende letzten Jahres lebten gemäss BFS in der Schweiz 1,1 Millionen über 65-Jährige – davon fast ein über 80-Jährige Auch sie profitieren, wenn Architekten, Planer und Bauherren an mehr Eventualitäten denken, als die Gegenwart dies hergibt «Ich glaube, es hat zum Teil auch mit fehlendem Bewusstsein zu tun, dass das lhema ,Barrierefreiheit immer noch viel zu wenig in die Planung mit einbezogen wird>, mutmasst Sandra Remund. Vorstandsmitglied des Hausvereins Zentralschweiz. Sie und ihr Team der Architektur Firma.Altervia GmbH haben sich auf die Entwicklung von Lebensräumen für ältere Menschen spezialisiert «Mit einem Umdenken und dem Loslassen von ausschliesslich design-gesteuerten Vorstellungen wäre schon viel gewonnen.»

Die kleinen grossen Hürden

Oh stolperten gerade ältere Menschen Über Kleinigkeiten. Etwa in der Küche, wo heute häufig Herde mit Berührungssensoren eingebaut werden. Ein Problem, wenn ob zunehmender Alterssichtigkeit die kleinen digitalen Ziffern nicht mehr erkannt werden: «Zudem nimmt die senso tische Fähigkeit ab und das Bedienen müdem Finger wird zum Problem. Die Konsequenz für diese Person ist, dass sie nicht mehr selber kochen kann, obwohl sie dazu mit einem anderen Herd durchaus noch in der Jige wäre.»

Auch Menschen mit Behinderung scheitern häufig an kleinen Dingen, welche eine grosse Hürde darstellen: die Höhe der Sonnerie, der Gegensprechanlage, der Briefkästen. Weiter geht in der Planung ah und an die Bedienbarken von Türen und der ungehinderte Zugang zu Einstellhallen oder zu wichtigen Nebenräumen wie Keller und Waschlaiche vergessen, wie Nicole Woog, Architelain und Leiterin der Koordinationsstelle Bauen und Umwelt der Pro ininmis bemängelt: «Stufen und Schwellen können ganze Gebäudeteile für Menschen im Rollstuhl unzugänglich machen und sie ausschliessen Dies wäre einfach zu vermeiden» Barrierefrei zu bauen, ist überdieskein Störfaktor für Personen ohne Handicap. Im Gegenteil: Die hindernisfreie Bauweise verbessere die Benutzbarkeit des Gebäudes und den Komfort für alle Benutzer: «Es profitieren ältere

Menschen. Personen mit kleinen Kindern und Kinderwagen, mit Reisegepäck oder schweren Einkäufen und sie erleichtert den Ein- und Auszug. Die hindernisfreie Bauweise ist somit ein Mehrwert für die gesamte Gesellschaft.» Einer, der sich überdies auszahle, meint Sandra Re- mund: «Wenn die eigene Wohnung es erlaubt, so lange wie möglich selbständig zu leben, kann manch ein frühzeitiger Umzug in eine gutlenke Entrichtung verhindert werden.»

Noch Luft nach oben

Die Situation und die Denkweise habe sich freilich in denletzten Jahren deutlich verbessert. Seit
Inkrafttreten des Behindettengteiehstellungsgesetzes 2(104 und der SiA-Norm 500, welche das hindernisfreie Bauen vorschreibt, Ledas Tbema bei der Planung stärker präsent.

Bei öffentlichen Gebäuden sei die Hindernisfreiheit seither weit fortgeschritten. «Im Wohnungsbau hingegen hapert es noch», sagt SP-Ständerätin Pascale Brudereg Präsidentin des Dachverbands der Behindertenorganisationen Inclusion Handicap: «Vor allem ältere Mehrfamihenhäuser sind für Menschen mit Behinderung oft ein Problem. Es gibt viel zu wenig Wohnungen, die behindertengerecht gestaltet sind.» Immerhin habe sich die Situation bei neu erstellten Miethäusern verbessert

Dabei sei der Bau von barrierefreien Wohnungen nicht primär eine Kostenfrage Neuhauten hin-dernisfrei zu erstellen, mache auf der Kostenseite ein Plus vonetwa 2,6 Prozent aus, erläutert Nicole Woog «Je früher die hindernisfreie Bauweise im Planungsprozess mit einbezogen ist, desto günstiger wird sie.» Aufwendigersind Anpassungen von älteren Gehäudetc Durchsehnittlich beträgt der Mehraufwand bei umhauten 5,9 Prozent. Es könne auch Ausreisser nachoben gehen, räumt Pascale Bruderer cm «Die Abklärungen lohnen sich immer. Auch wenn es vereinzelt Fälle gibt, in denen sich ein behindertengerechter Umbau aufgrund fehlender Verhältnismässigkeit schlicht nicht umsetzen lässt» Richtig kompliziert kann es zudem werden, wenn ein Gebäude unter Denkmalschutz steht.

Bauherrschaften sensibilisieren


Neuer barrierefreier Hauszugang mit Rampe entlang der Fassade von 1902 – innen Hindemisfreitheit nach SIA-Norm 500. Die Liegenschaft der Liehtstrasse Basel wurde 2015 umgebaut

 


Verzwickt Nicht gelungenes Beispiel für barrierefreier einer Rampe.

 


Nicht Immer ein Hindermis: Bei einer Sehbehinderung ist die Treppenmarckierung entscheidend als Orientienrungshilfe

 

Dass Architekten und Bauplaner vermehrt an Hindernisfreiheit denken, ist gut. Warum jedoch ist die Fragestellung bei der Bauherrschaft so wenig präsent? Oft werde die Möglichkeit eines schweren Handicaps ausgeschlossen und das eigene Altern verdrängt: *Wer nicht selber bereits direkt oder indirekt betroffen ist, schenkt dem Thema wenig Aufmerksamkeit stellt Bruderer fest. Dabei ist doch ganz besonders im Alter ein Wegzug aus derliebgewonnenen Umgeeine markante Zäsur, eine grosse Belastung noch dazu. Die Betroffenheit im eigenen Umfeld könne jedoch zum timdenken bewegen, sagt Architektin Sandra Remund: *Ich mache die Erfahrung, dass Menschen, welche sich gerade mit der Gebrechlichkeit der eigenen Eltern auseinanderzusetzen haben, sich des Problems plötzlich bewusst werden. Dass ein fehlender Handlauf oder ein Türschliesser dazu führen können, dass eine fragile Person das Haus nicht mehr verlassen kann.»

Das Behindertengleichstetlungsgesetz verlangt, dass Wohnbauten mit mehr als 8 Wohneinheiten hindernisftei gebaut verden müssen, Für Pro Infinnis ist dieser Grenzwert hoch angesetzt, Nicole Wong dagegen: «IVlehrfamilienhäuser mit so vielen Wohnungen sind fast nur in den grösseren Zentren zu finden, Idealerweise würden Wohnbauten ab 4 Wohnungen hindernisfrei gebaut.» Immerhin seien die Kantone frei, den vom Bund vorgeschriebenen Grenzwert zu unterschreiten. So müssen etwa in den Kantonen Basel-Stadt und Genf neu bewilligte Wohnbauten ab 2 Einheiten hindernkdrei sein. Mit den kantonalen Gesetzesevisitmen verbesserten sich die Adorderungen aber laufend, ergänzt Woog.

Das Bohren dicker Bretter

Dass die Vorgaben des Bundes dereinst weiter verschärft werden, unterstützt auch Ständerätin Pascale Bruderer, Immerhin habe die Schweiz die Uno-Behindertenrecluskonvention ratifiziert – sei aber in deren Erfüllung im Rückstand: hat sich einiges getan, wir haben aber noch zu viele Defizite in der Gleichstellung von behinderten Menschen. Wir leistensehr viel Oberzeugungsarbeit im Departement des Innern» Die Frage des gesetzlich vorgeschriebenen Wohnungsangebots für Menschen mit Handicap müsse unbedingt weiter diskutiertwerden.