Behinderte sollen Wahlfreiheit erhalten

(Neue Zürcher Zeitung)

Der Kantonsrat sagt Ja zu einer Motion, die auf einen Systemwechsel bei der Betreuung zielt


Mehr Selbstbestimmung für behinderte Menschen ist das Ziel des parlamentarischen Vorstosses / BRYNN ANDERSON / AP

 

MICHAEL VON LEDEBUR

Selbstbestimmung, Grundrechte, Wahlfreiheit: Es waren grosse Worte, die im Rathaussaal fielen. Der Kantonsrat diskutierte darüber, ob Menschen mit Behinderungen selbständiger entscheiden dürfen, wie und wo sie betreut werden.

Die Allianz, die sich für einen Systemwechsel starkmachte, war fraktionsübergreifend – und rhetorisch erdrückend.

Am weitesten ging Maria Marty (edu., Volketswil): Das heutige System sei «schockierend». Menschen mit B ehinderungen müssten die Wahlfreiheit haben. Wenn schon nicht im Körper der Mutter, dann wenigstens in der Frage der Betreuung, fügte sie mit einem Schlenker zur Abtreibungsfrage hinzu Dass die Idee breiten Rückhalt geniessen würde, hatte sich abgezeichnet, fusste sie doch auf einer Motion von FDP, SP und EVE Künftig sollen nicht mehr Heime, in denen Menschen mit Behinderungen betreut werden, unterstützt werden, sondern die Menschen selbst.

Sie sollen Wahlfreiheit haben, wie sie ihre Betreuung organisieren wollen. Vom Wechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung ist die Rede. Es sei eine Wahlfreiheit, die bei Nichtbehinderten im Krankheitsfall selbstverständlich sei, gab Motionärin Beatrix Frey (fdp., Meilen) zu bedenken. Viele Menschen mit Behinderungen zögen eine autonome Lebensgestaltung einem Aufenthalt in einer Behinderteninstitution vor. Andere wiederum seien darauf angewiesen.

Kein Freipass für Träume

Der Systemwechsel bringe nicht nur den Einzelnen mehr Selbstbestimmung, sondern tue auch den Institutionen gut, so Frey weiter. «Es wird mehr unternehmerische Freiheit geben.» Um Finanzpolitik gehe es nicht: Es handle sich weder um eine Sparübung noch um einen Freipass zu Verwirklichung von Lebensträumen.

Der Systemwechsel solle kostenneutral vonstattengehen.

Mit-Motionär Daniel Frei (sp., Niederhasli) sagte, für die Heime bedeute der Wechsel temporär Wettbewerbsdruck, aber die Institutionen seien in der Lage, dies zu meistern. Bezüglich Finanzierung sagte der dritte Motionär, Markus Schaaf (evp., Zell), es sei zu früh, über Zahlen zu sprechen. Aber es handle sich keineswegs um eine Utopie. Er verwies auf andere Kantone, die denselben Weg beschritten. Ruth Frei (svp., Wald) meldete als einzige Wortführerin im Saal Skepsis an, gerade bezüglich der Finanzierung. Sie rechnete vor, dass heute nur 15 Prozent aller Menschen mit Behinderungen im Kanton Zürich in Institutionen betreut würden.

Das sind 10 000 Personen. Die übrigen kämen bis heute nicht in den Genuss der 333 Millionen Franken, die der Kanton jährlich für die Institutionen ausgebe. Prinzip der Giesskanne droht Künftig soll es eine individuelle Bedarfsabklärung für jeden einzelnen Betroffenen geben. Frei sprach in der Debatte vom Giesskannenprinzip, das drohe. Im Gespräch mit der NZZ sagte sie, dass der Systemwechsel womöglich mehr Gerechtigkeit bringe. «Aber es wird bestimmt Mehrkosten geben.» Dies gelte es seriös abzuklären. Es wäre besser gewesen, abzuwarten, bis gesicherte Erkenntnisse aus anderen Kantonen vorlägen, gerade bezüglich der Kosten. Das sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht der Fall.

Ihre eigene Fraktion, die SVP, folgte Frei. Alle anderen Fraktionen nahmen die Motion an und erteilten der Regierung den Auftrag zum Gesetzesentwurf. Sicherheitsdirektor Mario Fehr (sp.) sagte, der Regierungsrat nehme die Motion gerne entgegen – auch wenn die Ausarbeitung «nicht ganz so einfach» werden dürfte.