«Bei den Institutionen istsehr viel Fachwissen vorhanden»

(Curaviva / deutsche Ausgabe)

Der Aktionsplan zur Umsetzung der Uno-BRK im Urteil der Behindertenorganisationen

Julien Neruda*, Geschäftsleiter des Dachverbandsder Behindertenorganisationen (Inclusion Handicap), nennt den Aktionsplan der Branchenverbände Curaviva, Insos und VAHS einen «wichtigen Schritt» zur Umsetzung der Uno-BRK. Er misst denInstitutionen auch künftig eine zentrale Rolle bei.

Von Elisabeth Seifert

Inclusion Handicap vertritt als Dachverband die Interessen von23 Behindertenorganisationen und deren Mitgliedern. Der Dachverband hat sich dafür eingesetzt, dass die Uno-Behindertenrechtskonvention in der Schweiz ratifiziert worden ist. Zudem hat er mit einem detaillierten Bericht aufgezeigt, welcher Handlungsbedarf sich daraus ergibt, auch im Bereich der Institutionen. Im Interview mit der Fachzeitschrift kommentiert Geschäftsleiter Julien Neruda den «Aktionsplan UN-BRK 2019-2023» von Insos, Curaviva und VAHS, der Anfang März veröffentlicht worden ist. Damit setzen sich die drei Branchenverbände für die Umsetzung der Konvention im institutionellen Bereich ein.

Der nationale Aktionsplan von Curaviva, Insos und VAHS will Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben und Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen. Ist das aus Sicht der Behindertenorganisationen gelungen?

*Julien Neruda,46, ist Verbandsmanager und seit 2014 Geschäftsleiter von Inclusion Handicap. Zuvor war er in der Jugend- und Bildungspolitik, bei Amnesty International und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe tätig.

Julien Neruda: Der Aktionsplan der Verbände ist ein wichtiger und nötiger Schritt zur Umsetzung der Uno-Behindertenrechts-konvention in der Schweiz. Selbstbestimmtes Leben ist ein absoluter Grundsatz der Uno-BRK. Es geht dabei um den menschenrechtlichen Ansatz. Menschen mit einer Behinderung haben wie alle Menschen das Recht, über ihr Leben zu bestimmen, wo und wie sie wohnen wollen, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen oder wie sie ihre Freizeit verbringen.

Vor fünf Jahren wurde die Uno-BRK von der Schweiz ratifiziert. In den Köpfen der involvierten Akteure, bei Verbänden, Organisationen und Behörden, sowie auf der Ebene der Konzeptarbeit ist seither einiges in Gang gesetzt worden. Bei den konkreten Massnahmen hingegen, bei den Strukturen und Instrumenten und selbst bei den gesetzlichen Grundlagen gibt es noch sehr viel zu tun. Ein grosses Fragezeichen setze ich auch beim Bewusstsein in der breiten Öffentlichkeit.

Der Aktionsplan der Verbände ist in erster Linie also einschönes Konzept…

Der Aktionsplan zeigt auf, was es alles zu tun gibt im institutionellen Bereich. Und er macht sichtbar, dass wir bei der Umsetzung der Uno-BRK erst ganz am Anfang stehen, nicht nur im Bereich der Institutionen, sondern ganz generell in unserer Gesellschaft. Wir unterstützen die Initiative der Branchenverbände sehr. Wir würden uns aber von ihrer Seite und auch vonseiten der Leistungsbesteller, also den Kantonen, noch mehr Verbindlichkeit wünschen. Es braucht mehr als Empfehlungen gegenüber den Mitgliedern: Es braucht einen klar definierten Zeitplan, wo man in fünf oder zehn Jahren sein will. Positiv hervorheben möchte ich, dass die drei Verbände mit gutem Beispiel vorangegangen sind und Betroffene in die Erarbeitung des Aktionsplans mit einbezogen haben.

Wir stehen am Anfang, sagen Sie – wo liegt das Problem?

Die Umsetzung der BRK erfordert ein radikales Umdenken, alle müssen über die Bücher, die Kantone, die Dienstleistungsanbieter und auch wir, die Behindertenorganisationen. Wir müssen wegkommen vom karitativen Ansatz. Menschen mit Behinderung sind Bürgerinnen und Bürger, über die man nicht einfach befinden kann. Der Uno-Behindertenrechtsausschuss hat vor einigen Monaten in klarer und radikaler Weise formuliert, was von den Vertragsstaaten der Behindertenrechtskonvention erwartet wird: Vom Zeitpunkt der Ratifizierung an sollte keine neue Institution gegründet werden, und jedes Mal, wenn eine Einrichtung ihr Angebot anpasst oder umbaut, sollte dies nicht zu mehr Betreuungsplätzen führen. Statt stationäre Plätze sollten vielmehr zusätzliche ambulante Angebotege geschaffen werden. Zurzeit gibt es in der Schweiz einige gute Beispiele von Institutionen, die ihr Angebot flexibilisieren und der Uno-BRK entsprechend ausgestalten. Bei diesen guten Beispielen handelt es sich aber um die Spitze des Eisbergs.


Julien Neruda, Geschäftsleiter von Inclusion Handicap: «Wirunterstützen die Initiative der Branchenverbände sehr.

 

Wo sehen Sie die Zukunft der Institutionen?

Die De-Institutionalisierung ist nicht das Ziel. Es braucht aber eine Angebotsvielfalt, damit die Betroffenen eine echte Wahlfreiheit haben, wo, wie und in welcher Intensität sie unterstützt werden wollen. Bei den Institutionen ist sehr viel Fachwissen vorhanden. Aufgrund ihrer lokalen Verankerung könnten sie künftig verstärkt eine vermittelnde Funktion zwischen stationären und ambulanten Angeboten wahrnehmen, dafür müssen sie ihr eigenes Angebot auch durchlässig gestalten. Bei der Uno-BRK geht es ja eigentlich um die Sozialraumidee, die gerade auch von Curaviva Schweiz gezielt gefördert wird. Die Einrichtungen haben aus meiner Sicht künftig eine wichtige Rolle dabei, mit Blick auf das Wohl der Betroffenen immer wieder zu evaluieren, wo diese stehen. Und mit ihnen herauszufinden,welche Art von Unterstützung in einer bestimmten Lebensphase ihre Autonomie fördert. In diesen Aufgaben sehe ich gleichzeitig die Bedeutung und die Verantwortung der Institutionen.

Was ist zu tun, damit der Aktionsplan nicht zu einem Papiertiger verkommt?

Neben den fachlichen Bemühungen der Institutionen wird ganzentscheidend sein, wie stark sich die Kantone als Leistungsbe-steller zur Uno-BRK bekennen. Hier stehen wir vonseiten derBehindertenorganisationen genauso wie Curaviva und Insos in Kontakt mit den zuständigen Ämtern. Auch hier gibt es einige Initiativen. Verschiedene Kantone verfolgen den Ansatz,auf der Ebene von Konzepten und Massnahmen das Angebot so zu steuern, dass es Uno-BRK-konform wird. Zum Beispiel mit Einführung der Subjektfinanzierung.Damit werden nicht mehr die Heime finanziert, sondern der indiduell erhobene Bedarf. Dadurch kann ein nachfrageorientiertes Angebot entstehen.

Erst wenige Kantone hingegen gehen grundsätzlich über die Bücher und erarbeiten für sämtliche Politikfelder ein Rahmengesetz, um Barrieren aller Art abzubauen. Die Flexibilisierungder Wohn- und Betreuungsangebote allein ist mit Blick auf eine inklusive Gesellschaft zu wenig. Es muss darum gehen, Menschen mit Behinderung die Teilnahme am ersten Arbeitsmarkt,den Zugang zur Bildung, zu Freizeitangeboten und Dienstleistungen unterschiedlicher Art zu ermöglichen. Vor allem die beiden Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft leisten ak-tuell auf gesetzlicher Ebene Pionierarbeit.

Inclusion Handicap hat als Dachverband der Behindertenorganisationen den Anspruch, in diesem umfassenden, gleichstellungsrechtlichen Sinn auf Behörden, Politik und Wirtschafteinzuwirken. Wo stehen Sie mit Ihren Bemühungen?

Wir haben uns sehr dafür eingesetzt, dass die Uno-Behindertenrechtskonvention in der Schweiz überhaupt ratifiziert worden ist. Im Jahr 2017 haben wir vonseiten der Zivilgesellschaftmit dem Schattenbericht dann detailliert aufgezeigt, welcher Handlungsbedarf sich in der Schweiz daraus ergibt. Darüber hinaus waren wir wesentlich an der Erarbeitung eines Berichts des Bundesrates zur Stärkung der Behindertenpolitik beteiligt,der im letzten Mai verabschiedet worden ist. Dabei geht es insbesondere um die Gleichstellung in der Arbeitswelt, die Förderung eines selbstbestimmten Lebens sowie die barrierefreie digitale Kommunikation. Zudem soll die Zusammenarbeit von Bund und Kantonen verstärkt werden. In all unseren Bemühungen geht es immer um eine ganzheitliche Sicht, ausgehendvon den Anliegen der Menschen mit Behinderung.

Können Sie diese «ganzheitliche Sicht» etwas konkretisieren?

Die BRK stellt den Menschen ins Zentrum. Wenn man dasmacht, dann muss man gerade auch im Bereich der Sozialversicherungen die sektoriell definierten Strukturen und gesetz-lichen Vorgaben hinterfragen. Die heutigen Finanzierungsmechanismen erschweren den Aufbau von durchlässigen, amBedarf der Betroffenen ausgerichteten Angeboten. So ist zumBeispiel der Bund respektive die IV für die Finanzierung desAssistenzmodells und des begleiteten Wohnens zuständig,die stationären Betreuungsangebote hingegen werden vonden Kantonen finanziert. Bei alternativen Wohnformen fühlen sich dann schnell einmal weder der Bund noch die Kanto-ne zuständig.

Planen Sie vonseiten der Behindertenorgani-sationen auch so etwas wie einen nationalenAktionsplan zur Umsetzung der Uno-BRK?

Sagen wir es so: Wir setzen uns dafür ein, dassauf der Ebene des Bundes und der Kantonekonkrete Aktionspläne erarbeitet werden.Zurzeit sind wir stark involviert in die Weiter-entwicklung und Umsetzung der Behindertenpolitik. DieseLeitlinien für eine Behindertenpolitik des Bundes und der Kantone gibt es, wie ich bereits erwähnt habe, erst seit letztem Mai.Neben diesen Bemühungen ist Inclusion Handicap eingebun-den in die Überprüfung der Schweiz durch den Uno-Behindertenrechtsausschuss. Im Herbst werden die Kernthemen festgelegt, bei denen der Ausschuss die Schweiz konkret überprüfen will. Wir versuchen auf die Auswahl der Themeneinzuwirken. Der Bericht des Uno-Behindertenrechtsausschuses über den Stand der Umsetzung der Uno-BRK in der Schweizwird im Herbst 2020 vorliegen.

Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf
Die Förderung des selbstbestimmten Lebens und die Gleichstellung in der Arbeitswelt sind zwei sehr wichtige Themen,die auch in der Behindertenpolitik des Bundes Priorität haben.

Das Potenzial von Menschen mit Behinderung, die im ersten Arbeitsmarkt arbeiten könnten,ist längst nicht ausgeschöpft. Der Handlungs-bedarf besteht vor allem bei der Wirtschaft.Die Bereitschaft, eine Person mit Behinderungzu beschäftigen, ist nur selten vorhanden.Auch die IV ist nach wie vor defizitorientiert.Man müsste vielmehr feststellen, über wel-ches Potenzial eine Person trotz gewissen Ein schränkungen verfügt und wie sie im Arbeitsprozess eingesetztwerden kann. Ein weiterer grosser Handlungsbedarf bestehtim Bereich Zugang zu privaten Dienstleistungen wie etwa von Banken, Versicherungen oder auch des Gastgewerbes. Auchhier bestehen nach wie vor grosse Benachteiligunge.

Ganz besonders stark benachteiligt werden Menschen mitpsychischen und geistigen Behinderungen…

Im Unterschied zu Personen mit körperlichen Einschränkungen haben Menschen mit geistigen und psychischen Beeinträchtigungen «unsichtbare» Behinderungen», und sie sind, dasie mehrheitlich in stationären Einrichtungen leben, in der Öffentlichkeit kaum präsent. Das fördert Berührungsängste.Exemplarisch zeigt dies der Fall des privaten Heilbads Unterrechstein in Grub im Kanton Appenzell Ausserrhoden, das 2017 einer Gruppe von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung den Zugan verweigert hat. Gemeinsam mit den Behindertenorganisationen Procap, Pro Infirmis und Insieme haben wir auf der Grundlage des Diskriminierungsverbots im Behindertengleichstellungsgesetz ein Urteil erwirkt. Weil es sich um einen privaten Anbieter handelt, hatte das Urteil aber keine konkreten Konsequenzen. Das ist eine Schwäche des Gesetzes.

Müssten die Branchenverbände und die Behindertenorganisa-tionen künftig nicht stärker zusammenarbeiten, um den Anliegen der Uno-BRK auf Seiten der Politik und der Gesellschaft Geltung zu verschaffen?

Der Austausch zwischen uns und den Branchenverbänden, mit Insos und auch mit Curaviva, ist intensiv. Im Rahmen von verschiedenen Arbeitsgruppen tauschen wir uns regelmässig aus,zur Uno-BRK generell, zu den Themen Arbeit und Bildung, auch was die Weiterentwicklung des Assistenzmodells betrifft. Dabei geht es auch immer wieder um politische Forderungen. Als Vertreter der Menschen mit Behinderungen vertreten wir abernicht immer die gleichen Interessen wie Insos und Curaviva,welche die Interessen der Institutionen vertreten.

Das ist kein Gegensatz: Gerade auch der Aktionsplan macht doch deutlich, dass sich die Branchenverbände für die Interessen von Menschen mit Behinderung einsetzen?

Das ist richtig. Wir ergänzen uns auch meistens sehr gut in derpolitischen Arbeit. Wir haben aber trotzdem nicht immer die gleichen Positionen. Umso wichtiger ist deshalb ein offener und trans-parenter Austausch. Wo ich aber durchaus Potenzial sehe: Wir haben auch auf fachlicher Ebene noch viel zu tun, um die Ziele der BRK umzusetzen. Aufgrund ihrer Expertise können und müssendie Branchenverbände hier einen wertvollen Beitrag leisten.

Auf europäischer Ebene haben Behindertenorganisationenund Verbände der Dienstleister eine gemeinsameAbsichtserklärung unterzeichnet, um die Umsetzung derUno-BRK gemeinsam voranzutreiben. Insos-GeschäftsführerPeter Saxenhofer möchte so etwas auch in der Schweizrealisieren. Was halten Sie davon?

Wir haben Anfang September auf der Ebene der Verbandsspitzenein Austauschtreffen von Inclusion Handicap, Insos und Curaviva geplant. Bei diesem Austauschtreffen soll unter anderemauch besprochen werden, ob wir eine solche gemeinsame Erklärung anpeilen möchten. Ich schliesse das nicht aus.

«Der Aktionsplan der Branchenverbände hat eine hohe Relevanz»

«Wir sind zuversichtlich, dass der Aktionsplan entscheidendzur Inklusion der Klientinnen und Klienten von Institutionenbeitragen wird», sagt Matthias Leicht, stellvertretender Leiterdes eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Men-schen mit Behinderungen (EBGB). Für die Umsetzung der Uno-BRK seien nicht nur Bund und Kantone gefordert, es handlesich dabei vielmehr um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.«Deshalb begrüssen wir sehr, dass die drei Verbände von sichaus die Initiative übernommen und diesen Aktionsplan erarbeitet haben.» Insos Schweiz, Curaviva Schweiz und der VAHS konnten dabei auf die finanzielle Unterstützung des EBGB zählen. Der Aktionsplan habe mit den entwickelten Massnahmen und Empfehlungen zu den drei Handlungsfeldern Arbeit,Lebensgestaltung sowie Bildung von Fach- und Leitpersonendie gesteckten Ziele erreicht.

Neben der «hohen Relevanz» des Aktionsplans hebt Matthias Leicht insbesondere den Einbezug von Klientinnen und Klien-ten mit Behinderung positiv hervor. Während mehrerer Worshops wurden diese über den Stand des Plans informiert undkonnten ihre Forderungen stellen.

Nächste Schritte der Politik auf nationaler Ebene

Das Hauptinstrument der Schweizer Regierung, um die Uno-BRK umzusetzen, ist der Bericht zur Behindertenpolitik. Indiesem Dokument werde, so Leicht, eine kohärente Behindertenpolitik für Bund und Kantone formuliert sowie Schwerpunk-te für die Jahre 2018-2021 gesetzt. Die Schwerpunkte sindselbstbestimmtes Leben, Gleichstellung in der Arbeitsweltsowie Barrierefreiheit und Digitalisierung. Da die Umsetzungnicht nur auf Bundesebene, sondern auch auf Kantons- und Gemeindeebene sowie in der Privat- und Zivilgesellschaft erfolge, koordiniere das EBGB verschiedene Arbeitsgruppen mit Vertreterinnen und Vertretern aus den entsprechenden Ämtern, Institutionen und Verbänden. Eine der Vorgaben der Behindertenpolitik ist, über die Fortschritte der Umsetzung derBehindertenpolitik zu kommunizieren.