Bund muss IV-Arzt entmachten

(SonntagsBlick)

Für 14 Millionen Franken bestellte die IV von 2013 bis 2018 Gutachten bei Dr. Mast. Nun darf er keine neuropsycho-logischen Abklärungen mehr vornehmen.


Die Firma Dr. Mast erstellte in nur fünf Jahren IV-Gutachten für 14 Millionen Franken.Rechts:Auszüge des Urteils gegen die St. Galler IV-Stelle

 

REZA RAFI

Ist dieser Mensch arbeitsfähig oder hat er Anspruch auf Invalidenrente? Diese Frage entscheidet über das Schicksal eines ganzen Lebens.Für medizinische Gutachter ist sie Teil des beruflichen Alltags.Für manche ein gutes Geschäft.

Zu den grossen Playern der Branche gehört der Zürcher Neurologe Henning Mast. Beiseiner Firma PMEDA habendie Schweizer IV-Stellen inden Jahren 2013 bis 2018 Gutachten für über 14 Millionen Franken in Auftrag gegeben.Diese Zahl resultiert aus der Aufstellung des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV). Masts Firma bietet Krankenkassen, Rechtsanwälten und IV-Stellen medizinische Abklärungen in 20 Disziplinen an, darunter Rheumatologie, Onkologie oder Kardiologie. Mast erstellt auch selbst Gutachten.

Seit einigen Wochen ist Mast allerdings ein wenig zurückgebunden.

Am 3. Oktober flattert denkantonalen IV-Stellen ein Schreiben ins Haus.

Absender ist der Bund, genauer das BSV. Laut Betreff geht es um die «fachliche Qualifikation von Herrn Dr. med.Henning Mast». Der Arzt sei ab sofort nicht mehr für die Durchführung neuropsychologischer Gutachten zugelassen.

Unterzeichnet ist der Rundbrief von BSV-Vize Stefan Ritler. Er liegt SonntagsBlick vor.

Der Bund ergriff diese Massnahme nicht von sich aus: Die Verwaltung sah sich zu diesem Schritt gezwungen. Anlass ist ein Urteil des St. Galler Versicherungsgerichts vom 5. September,das für Mast ungünstig erscheint.

«Lediglich sekundäres Grundwissen»

Eine Frau, die seit einem Verkehrsunfall mit Verdacht auf traumatische Hirnverletzung an Schmerzen im ganzen Körper leidet, hätte im Rahmen einer sogenannten polydisziplinären Abklärung auch von Mast untersucht werden sollen. Die Zuteilung erfolgte nach dem Zufallsprinzip.Doch die Patientin reichte Beschwerde ein:Neurologe Mastverfüge nicht über die Fachkompetenz, um neuropsychologische Gutachten zu erstellen.

Das Gericht gab der Frau recht.Das Urteil der drei Richterinnen könnte kaum deutlicher sein: Es sei «nicht erkennbar», dass Mast «über spezifische psychologischeAus- bzw. Weiterbildungen oder eine spezifische Qualifikation im Umgang mit psychometrischen Verfahren verfügt». Stattdessen besitze Mast «lediglich sekundäres Grundwissen über psychologische Testverfahren», und zwar als Bestandteil «der inzwischen 30 Jahre zurückliegenden Weiterbildung». Mast sehe sich «primä raufgrund seiner Person und weniger aufgrund seiner Aus- und Weiterbildung für neuropsychologische Beurteilungen befähigt».

Angesichts der Tätigkeit in einem derart heiklen Bereich lässt das Verdikt aufhorchen. Zwar betrifft das Urteil einen Einzelfall. Doch hat Masts Firma Hunderte von Patienten abgeklärt. Und der St. Galler Rechtsstreit ist nicht der erste,in den Mast involviert ist.Allerdings waren weder Mast noch seine Firma in dem Gerichtsprozess Partei.

Doch das Bundesamt für Sozialversicherungen relativiert das eigene Rundschreiben an die IV-Stellen gegenüber SonntagsBlick.Die Behörden erklären den Umstand, dass Mast als neuropsychologischer Gutachter gestoppt wird, zur Formalie.«Diese Einschränkung geht einzig auf die erklärten formellen Gründe zurück und hat keinerlei Zusammenhang mit der Qualität der Gutachten dieses Arztes», teilt der Sprecher des Amts auf Anfrage mit.

Zudem verweist man auf einen ähnlichen Prozess im Thurgau, bei dem Mast gestützt wurde. Er verfüge «über eine fachärztliche Ausbildung in Neurologie sowie über eine Zusatzausbildung in Neuropsychologie». Strittig sei nur,«ob diese beiden Ausbildungen zusammen dazu bemächtigen,neuropsychologische Gutachten durchzuführen».

An der Zusammen arbeit mit Mast hält das Bundesamt ausdrücklich fest: «Der erwähnte Arzt darf weiterhin neurologische Gutachten für die IV er-stellen. Nur für neuropsychologische Gutachten darf er nicht mehr eingesetzt werden.» Naheliegende Schlussfolgerung: Von einem Gericht lässt sich die Verwaltung nicht so schnell beeindrucken.

Masts Firma sagt: «Dass die Kompetenz und die Unbefangenheit eines Gutachters von den Anwälten der Begutachteten bezweifelt werden, wenn das Gutachten nicht das erwünschte Ergebnis erbringt, ist keine Neuigkeit und gehört zum Tagesgeschäft einer Gut-achterstelle.» Man werde den Entscheid des Bundesamtes für Sozialversicherungen nicht anfechten.

Als Konsequenz aus dem«fraglichen St. Galler Urteil»werde man «künftig für neuropsychologische Gutachten vorerst keine Neurologen einsetzen,bis die Frage, ob ein Facharzt für Neurologie ein neuropsychologisches Gutachten erstellen kann, anderweitig entschieden ist».


Fremde Ärzte als fremde Richter

 

Die Schweiz lässt Dutzende Ärzte, die ihre Praxis in Deutschland haben, als IV-Gutachter einfliegen. Sie sollen entscheiden, wer eine IV-Rente bekommt.

THOMAS SCHLITTLER (TEXT)UND IGOR KRAVARIK (ILLUSTRATION)
Das psychiatrische Gutachten erklärt eine Frau für gesund und arbeitsfähig – die IV-Rente wird ihr verweigert. Doch ihr Rechtsanwalt Pierre Heusser (50)aus Zürich hält die Expertise für unbrauchbar.In seiner Beschwerde präzisiert er, dass der zuständige Dr. H.* aus Deutschland stammt und eine psychiatrische Praxis in Hamburg führt. «Es ist also davon auszugehen, dass Dr. H. lediglich als sogenannter 90-Tage-Dienstleister inder Schweiz tätig ist und sonst keinen Bezug zur Schweiz hat.» Für Heusser ist das inakzeptabel. Die Frau habe das Recht, von einem Arzt begutachtet zu werden, der «mit den schweizerischen Gepflogenheiten vertraut» ist.

Dr. H. arbeitet für die SMAB AG,eine von rund 30 Firmen, die in der Schweiz «polydisziplinäre IV-Gutachten» erstellen dürfen. Also solche, die mehrere medizinische Fachbereiche umfassen.

Nun zeigen Recherchen von SonntagsBlick: Dr. H. ist kein Einzelfall. Die SMAB AG arbeitet mit mehr als zehn Ärzten zusammen,die in Deutschland praktizieren und in der Schweiz nur als Versicherungsgutachter arbeiten.

Auch andere Gutachterstellenwie die PMEDA AG von Dr. Henning Mast (Seiten 2 und 3) lassen Ärzte aus Deutschland einfliegen,um Schweizer IV-Antragsteller zu begutachten. Mehrere Dutzend sogenannte Flugärzte sind hierzulande in dieser Funktion tätig.

Versicherungsanwälten, Behindertenorganisationen sowie behandelnden Schweizer Ärzten sind sie ein Dorn im Auge. Die Zürcher Psychiaterin Maria Cerletti (55) kritisiert, die räumliche Distanz verführe zu übermässiger Härte. «Die Kollegen aus Deutschland kenne nuns behandelnde Schweizer Ärzte nicht.Sie müssen uns nicht in die Augen schauen und sie müssen sich auch nicht um ihren Ruf als Behandler in der Schweiz kümmern.»Die Behindertenorganisation Procap moniert, dass sich deren Qualität kaum überprüfen lasse, wenn diese Ärzte ihre Praxis im Ausland hätten.«Es bekommt hier zum Beispiel niemand mit, wenn ein Arzt in deutschen Medien kritisiert wird. Auch disziplinarische Massnahmen bleiben unter dem Radar»,so Alex Fischer, Bereichsleiter Sozialpolitik bei Procap.

Rechtsanwalt Heusser plädiert generell dafür, dass mit der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit Mediziner beauftragt werden sollten, die mit den Schweizer Verhältnissen vertraut seien – mit dem Arbeitsmarkt, dem gesellschaftlichen Umfeld, mit dem Gesundheitswesen.Er fragt rhetorisch: «Oder würde eseinem Gericht in den Sinn kommen, für die Schätzung eines Chalets in Grindelwald einen deutschen Immobilienmakler aus Berlin einzufliegen?» Heusser stellt fest:«Wir Versicherungsanwälte haben den Eindruck, dass genau jene Gutachterstellen mit vielen ausländischen Gutachtern inihren Reihen am häufigsten von der Beurteilungder behandelnden Schweizer Ärzte abweichen.»

Thomas Ihde (51), Chefarzt der Psychiatrie der Berner Oberländer Spitäler FMI, will nicht alle Flugärzte in den gleichen Topf werfen.«Einige machen das seit Jahren,sind mit den Gegebenheiten in der Schweiz vertraut und arbeiten seriös», sagt er im Interview mit SonntagsBlick (Seite 6). Es gebebaber auch jene, die nur wegen des Geldes hier seien und die Schweiz kaum kennen:«Unter diesen Umständen ist ein seriöses Gutachten unmöglich.»

Das Bundesamt für Sozialversi-cherungen (BSV) weiss vom Einsatz der fremdländischen Experten.Der geballten Kritik zum Trotz verteidigt die Behörde die Praxis. Sprecher Harald Sohns: «Wir sehen darin kein Problem.» Relevant sei einzig die fachliche Qualifikation der Gutachter und nicht, wo diese ihren Sitz hätten.

Im Übrigen weist das BSV darauf hin, dass die Schweiz auf Gutachter aus dem Ausland angewiesen sei,weil es in bestimmten medizinischen Fachrichtungen einen Mangel an solchen Kräften gebe.

Auf die Frage, wie es komme, dass einzelne Gutachterstellen wie PME-DA und SMAB deutlich mehr Flugärzte in ihren Reihen hätten als andere, geht das BSV nur indirekt ein.Sprecher Sohns: «Die Gutachterstellen sind frei im Entscheid, mit welchen Gutachterinnen und Gutachtern sie zusammenarbeiten.» Es sei kein Mangel, wenn eine Gutachterstelle mehr deutsche Ärzte beschäftige als andere.

Die SMAB AG selbst betrachtet die zahlreichen deutschen Gutachter sogar als Glücksfall. Die beigezogenen Ärzte aus Deutschland hätten keine Berührungspunkte mit den schweizerischen Sozialversicherungsträgern oder der hier ansässigen Privatassekuranz.«Dies kommt unserem Credo, wonach die für uns tätigen Versicherungsmediziner frei von Interessenbindungen sein müssen, sehr entgegen», teilt das Unternehmen mit.Den Begriff «Flugärzte »hält die SMAB AG für despektierlich:«Unsere Gutachterinnen und Gutachter reisen jeweils in die Schweiz ein, in aller Regel mit dem Auto oder dem Zug.» In der Folge seien sie am Einsatzort zumeist mehrere Tage lang gutachterlich tätig.
* Name der Redaktion bekannt


Versicherungsanwälte sagen:«Jene Gutachterstellen mit vielen ausländischen Gutachtern weichen am häufigsten von der Beurteilung der behandelnden Schweizer Arzte ab.

 

Berner Chefarzt spricht Klartext
«Die IV-Stellen sind nicht neutral!»

INTERVIEW: THOMAS SCHÜTTLER

Thomas Ihde (51) ist Chef-arzt der Psychiatrie derBerner Oberländer Spitä-ler FMI und Präsident der Stif-tung Pro Mente Sana, die sichfür Menschen mit psychischenBelastungen einsetzt. Zudem ister als Gutachter für die Inva-lidenversicherungtätig (Photo PD).

Im Interview erklärt er, woran das IV-Gutachterwesen krankt.

Herr Ihde, vor einer Woche machte SonntagsBlick publik,dass einige Ärzte mit IV-Gutachten Millionen verdienen.Was sagen Sie dazu?

Thomas Ihde:Die Zahlen sind erstaunlich. Es ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, die Arbeitsfähigkeit von Menschen zu beurteilen.

Das soll angemessen entlöhnt werden.Wenn aber Ärzte, die ausschliesslich IV-Gutachten ausstellen, teilweise bis zu dreimal mehr verdienen als Ärzte, die Patienten behandeln,dann stimmt etwas nicht Anhand der Einkommen lässt sich errechnen, dass einige Ärzte pro Jahr 150 IV-Gutachten oder mehr ausstellen. Ist das seriös?

Nein. Zudem gibt es klare Hinweise darauf, dass einige IV-Ärzte einseitig urteilen. Von Patienten höre ich immer wieder, dass sich Gutachter für die psychiatrische Untersuchung nur 30 Minuten Zeit nehmen -und das, um komplexe Lebenssituationen zu beurteilen. Weiter bekomme ich für unterschiedlichste Menschen regelmässig Gutachten zu Gesicht,die praktisch identisch sind.Das ist ein klarer Hinweis auf Copy-Paste und reine Fliessbandarbeit.

Es gibt auch Ärzte, die ihre Praxis im Ausland haben, für ein paar gut bezahlte IV-Gutachten in die Schweiz fliegen und dann wieder verschwinden. Wie beurteilen Sie das?

Nicht alle Flugärzte sind schlecht. Einige machen das seit Jahren, sind mit den Gegebenheiten in der Schweiz vertraut und arbeiten seriös. Aber es gibt auch jene, die nur wegen des Geldes hier sind und die Schweiz kaum kennen. Unter diesen Umständen ist ein seriöses Gutachten unmöglich. Für die Patienten ist es zudem teils schwierig, wenn der Arzt kein Schweizerdeutsch versteht.Sie können sich auf Hochdeutsch nicht wie gewünscht ausdrücken.

Sie arbeiten ebenfalls als IV-Gutachter. Macht Ihnen das schlechte Image zu schaffen?

Ich möchte betonen: Der Grossteil der IV-Gutachter macht einen guten Job! Es sind einige schwarze Schafe, welche die ganze Branche in Verruf bringen. Das ist tragisch. Denn genau wegen dieses schlechten Rufs wollen viele behandelnde Ärzte, die seriös arbeiten, nicht als Gutachter tätig sein.

Wieso bekommen diese schwarzen Schafe immer wieder Aufträge?

Einige IV-Stellen scheinen jene Gutachter zu bevorzugen, die in ihrem Sinne entscheiden. Das lässt sich zwar nicht abschliessend belegen, weil die IV-Stellen keine Transparenz herstellen. Aus eigener Erfahrung kann ich aber sagen: Ich erhielt von der IV schon mehrmals Rückfragen, weil ich einem Patienten eine Arbeitsunfähigkeit attestiert hatte. Ich bekam aber noch nie eine Rückfrage, wenn ich einen Patienten für gesund und arbeitsfähig erklärte …

Die Einschätzung von Gutachtern wird von der IV höher gewichtet als die Einschätzung jener Ärzte, bei denen die Patienten effektiv in Behandlung waren. Wieso?

Die behandelnden Ärzte gelten als voreingenommen und deshalb zu «weich» in der Beurteilung. Die Gutachter dagegen gelten als neutral. Wenn aber drei behandelnde Ärzte völlig anders urteilen als der Gutachter, dann stellen sich schon Fragen. Allerdings besteht auch Handlungsbedarf bei den Behandlern. Sie müssen besser geschult werden.

Haben Sie weitere Vorschläge, um die heutige Situation zu verbessern?

Die IV-Stellen sind nicht neutral,sondern Partei. Sie dürfen deshalb nicht darüber entscheiden,wer ein Gutachten erstellt.Sämtliche Gutachten müssen nach dem Zufallsprinzip vergeben werden. Zudem braucht es eine übergeordnete Qualitätskontrolle von Gutachten und Gutachtern. Eine unabhängige Stelle, bestehend aus Vertretern der IV, Patientenorganisationen sowie der Versicherungsmedizin, könnte so ein System entwickeln. Es braucht Transparenz über die Entscheide der einzelnen Gutachter. Und Gespräche zwischen Gutachtern und Patienten gehören aufgezeichnet.