Bus – und Tram betriebe in der Kritik

(Aargauer Zeitung / Gesamt Regio)

Neue Studie: In den meisten Kantonen sind Billettautomaten und Info-Anzeigen zu wenig behindertenfreundlich.

Benjamin Weinmann

Wenn jemand eine Reise tut,dann kann er was erzählen. Wer kein Ticket lösen kann, nicht.

Viele Menschen mit Behinderungen, darunter auch Senioren, sind mit diesem Problem konfrontiert – trotz deutlicher Vorschriften, die eine solche Situation eigentlich verhindern sollten. Denn seit Ende 2013 müssten die Billettautomaten sowie die Informationssysteme für ÖV-Kunden in der Schweiz hindernisfrei zugänglich sein.So steht es im Behindertengleichstellungsgesetz.

Doch die Realität sieht anders aus. Agile.ch, der Schweizer Dachverband der Selbsthilfeorganisation für Menschen mit Behinderungen, hat 156 Transportunternehmen nach dem aktuellen Stand der Dinge befragt.80 haben geantwortet. Dabei ging es um Funktionen wie akustische Kundeninformationen, Schriftgrössen, die Signalisierung für Rollstuhlwege oder die maximale Höhe des Schlitzes für den Münzeinwurf. «Diese Resultate sind ernüchternd»,sagt Agile.ch-Sprecherin Silvia Raemy. «Ein Grossteil der Firmen hat noch nicht mal angefangen oder will nicht wahrhaben, dass sie etwas tun müssten.» Die Studie liegt CH Mediavor. Ein Wert von 100 Prozent wird bei keiner der Themen erreicht. Die Erfüllungsquote liegt zwischen 19 und 90 Prozent.

Als Beispiel für eine nötige Anpassung nennt Raemy die Möglichkeit, dass ÖV-Firmen die Haltestellen und Anschlussmöglichkeiten via Lautsprecher verkünden, damit auch Menschen mit Sehbehinderungen informiert werden, wo sich das Tram gerade befindet, ob der Zug ausfällt oder wann der nächste Bus fährt. Oft höre man von den Unternehmen, dass sie in erster Linie die grossen Haltestellen mit einer Sprachfunktion ausrüsten, sagt Raemy.«Das reicht aber nicht. Was sollen denn Reisende mit einer Sehbehinderung an kleineren Stationen machen?»


Silvia Raemy Sprecherin Agile.ch

 

Das Bundesamt für Verkehr weise die Aufsichtspflicht vons ich und verweise auf das Klageund Verbandsbeschwerderecht,sagt Raemy.

«Die Resultate sindernüchternd. EinGrossteil hat nochnicht mal angefan-gen oder will nichtwahrhaben, dass sieetwas tun müssten.»

Das Problem sei aber, dass die Gerichte oftmal sdie wirtschaftlichen Interessen der Transportfirmen generell stärker gewichten als das autonome Leben und Reisen von Menschen mit Behinderungen.Anstatt dass sichergestellt werde, dass die Firmen die Gesetzesvorgaben erfüllten, werde Menschen mit Behinderungen die Botschaft vermittelt: Passt euch an und geht mit den Hindernissen so gut wie möglich um. «Das ist absurd.»

«Bei den Bushaltestellen istes nur noch peinlich»

Agile.ch werde weiterhin versuchen, die Verantwortlichen für die Bedürfnisse von Menschenmit Behinderungen zu sensibilisieren, sagt Raemy. Dies habezum Teil schon gefruchtet, wie das Beispiel Stadt Bern zeige.Dort würden die Verkehrsbetriebe Bernmobil und die Behindertenkonferenz der Stadt und Region gut zusammenarbeiten -mit der Folge,dass viele Lösungen über die Vorgaben hinausgehen. So wird bei der Abfahrten-Anzeige eine grössere Schrift verwendet, sowie eine Beschichtung, die weniger spiegelt. Und eine Vorlese-Funktion ist auch vorhanden.

Markus Schefer, der erste Schweizer im UNO-Ausschuss für Behindertenrechte, hattekürzlich in dieser Zeitung die hiesigen Busbetriebe und die SBB scharf kritisiert. Dabei ging es um das selbstständige Einund Aussteigen. Tram- und Bushaltestellen müssen bis Ende 2023 behindertentauglich umgerüstet werden. Auch dies schreibt das Behindertengleichstellungsgesetz vor.

Gemäss der Fachstelle für Hindernisfreie Architektur waren 2018 von 50 000 Bushaltestellen erst 1000 umgebaut.«Bei den Bushaltestellen ist es einfach nur noch peinlich», sagt Schefer. Zudem ist die grösste Zug-Bestellung in der Geschichte der SBB in der Kritik. Schefer:«Es ist sehr bedenklich, dass die SBB über 60 Züge bestellt haben, welche die nächsten 30 oder 40 Jahre im Einsatz sein werden, die aber für durchschnittliche Rollstuhlfahrer mit Handrollstuhl nicht selbstständig benutzbar sind.» Für sie besteht wegen der steilen Rampe bei den Bombardier-Zugtüren die Gefahr, umzufallen und sichden Kopf aufzuschlagen.

In der Schweiz leben1,8 Millionen Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen.