China fördert den Behindertensport, als sei es ein Wettrüsten

(Neue Zürcher Zeitung)

An den Paralympics kann das Land die politischen Rivalen aus dem Westen so weit hinter sich lassen wie an keinem anderen grossen Sportanlass

RONNY BLASCHKE

Andrew Parsons bemüht sich offensichtlich, keine Wertung vorzunehmen.«Es gibt Dinge, die nur in China möglich sind», sagt der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees(IPC) in einem Videointerview. Und man fragt sich, ob er das gut findet oder nicht.

«China wird im paralympischen Sport weiter massiv investieren.» Die Folgen sind längst eindeutig. An den Paralympics in Tokio führt China im Medaillenspiegel, bis am Montag kamen 54 Gold-, 35 Silber- und 30 Bronzemedaillen zusammen, also insgesamt 119 Medaillen; Grossbritannien als zweitbeste Nation brachte es zum gleichen Zeitpunkt auf 68 Medaillen.

Das grösste Zentrum der Welt

Chinas Aufstieg basiert auf einem langfristigen Plan. An den Paralympics 1996 in Atlanta belegte das Land im Medaillenspiegel den 9. Rang, vier Jahre später in Sydney den 6. Rang. Doch dann wurden 2001 die Olympischen und damit auch die Paralympischen Spiele 2008 nach Peking vergeben. In einem Vorort der Hauptstadt wurde das grösste paralympische Sportzentrum der Welt gebaut, in den Provinzen entstanden acht-zehn Stützpunkte. Nach Angaben der Kommunistischen Partei flossen jährlich 100 Millionen Yuan, 14 Millionen Franken, aus Lotteriemitteln in den Behindertensport. Das Staatsfernsehen berichtete zunehmend und zitierte Persönlichkeiten wie Ping Yali, der 1984 das erste paralympische Gold für China gewonnen hatte. «Unser Behindertensportverband hat Hunderttausende Mitarbei-ter», sagte Ping, «auf allen Ebenen: in der Zentralregierung und in jedem Dorf.»

Die Aussage mag übertrieben sein,doch sie lässt eine Richtung erkennen. Seit der Jahrtausendwende wurden in China Zehntausende Menschen mit Behinderung für den Leistungssportgesichtet. Chi Jian, der Präsident der Sportuniversität in Peking, beschreibt in einem Aufsatz, wie weit das Netzwerk reicht: Spitäler, Schulen und Wohltätigkeitsorganisationen melden behinderte Jugendliche mit potenziellen Talenten an lokale Sportverbände.

In China leben schätzungsweise 100 Millionen Menschen mit einer Behinderung, das entspricht den Bevölkerungszahlen von Deutschland, Österreich und der Schweiz. «Nur ungefähr jede zehnte gesichtete Person wird für den Sport rekrutiert», sagt Karl Quade, der in Tokio zum 13. Mal ein deutsches Team als Chef de Mission anführt. «Das ist ein brutaler Selektionsprozess, den sich andere Länder nicht leisten können und wollen.»

Seit den Paralympics 2004 in Athen dominiert China den Medaillenspiegel. An den Spielen 2016 in Rio de Janeiro gewann die Delegation 107 Goldmedaillen – 43 mehr als die Nummer 2 Grossbritannien. Medien, Politiker und Wissenschafter in China werten diese Erfolge als Sinnbild für den ökonomischen Aufstieg der Volksrepublik. Und der historische Medaillenspiegel scheint ihnen recht zu geben: Von den zehn erfolgreichsten Nationen kommen acht aus Europa und Nordamerika. Die ersten drei – die USA, Grossbritannienund Deutschland – blicken auf sech-zehn Paralympics Teilnahmen zurück. China liegt mit zehn Teilnahmen seit dem Debüt 1984 auf Platz 4, als einziges Land unter den Top Ten, das sich kulturell nicht mit dem «Westen» identifiziert.

Das chinesische Regime kann seine politischen Rivalen an den Paralympics so weit hinter sich lassen wie an keinem anderen grossen Sportanlass. Doch für die Kommunistische Partei soll der Behindertensport auch nach innen wirken: Medaillen gelten als Belege für die Fürsorge des Sozialstaates und für die wachsende Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Der Forscher ChiJian schreibt sogar von «Massstäben, an denen der Fortschritt der gesellschaftlichen Zivilisation gemessen wird» Regierungsnahe Beobachter berufen sich auf Deng Pufang. Der erste Sohn des Reformers und ehemaligen Staatschefs Deng Xiaoping gilt in der Geschichtsschreibung Pekings als wichtigster Förderer von Menschen mit Behinderung in China. Deng setzte sich für eine bessere Versorgung ein, sprach bei Politikern vor, gründete 1988 den chinesischen Behindertenverband – und machte sich für Sport stark. Was kaum erwähnt wird: Während der Kulturrevolution war Deng Pufang gefoltert und 1968 zu einem Sprung aus dem dritten Stock genötigt worden. Seitdem ist er querschnittgelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Unter dem Diktator Mao Zedong sollten auch Paraden von trainierten Körpern den Aufbau der kommunistischen Nation symbolisieren – für behinderte Menschen wie Deng war lange kein Platz.

Westliches Expertenwissen

Das änderte sich um die Jahrtausendwende. «Das Niveau der Sportwissenschaften in China wurde im paralympischen Bereich immer besser», erzählt der promovierte Sportwissenschafter Karl Quade. Sportschulen verpflichteten Trainer und Experten für Prothetik aus demWesten. Doch einige Experten wie Stephen Hallett aus Grossbritannien legten dar, dass diese Sportoffensive nicht repräsentativ sei für Menschen mit Behinderung in China. Hallett lebte mehrere Jahre mit einer Sehbehinderung in China. In Beiträgen für die BBC dokumentierte er, wie behinderte Menschen bei der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt seien. Eine seiner Thesen: Mit der Vermarktung paralympischer Erfolgewolle das Regime Menschen mit Behinderung indirekt unter Druck setzen – damit diese in der Leistungsgesellschaft mehr zur Produktivität beitrügen.

Für diesen Anspruch stellt der Staat eine bessere Infrastruktur zur Verfügung, zumindest in Ballungsgebieten wie Schanghai oder Peking, wo 2022 die Olympischen und Paralympischen Winterspiele stattfinden werden. «Viele neue Hotels, Transportmittel und Sportstätten sind barrierefrei», sagt der IPC- Präsident Parsons. Doch beim Thema Inklusion, der gleichberechtigten Teilhabe, sind andere Nationen weiter. In Grossbritannien, Kanada oder den Niederlanden profitieren Sportler mit und ohne Behinderung häufig von den gleichen Angeboten in Training, Medizin oder Fortbildung. In China gibt es solche Kooperationen selten. Und überAntidoping-Massnahmen und technische Hilfsmittel sind nur wenige Informationen verfügbar.

Hunderttausende chinesische Kinder kommen jährlich mit einer Behinderung zur Welt, und die Zahl könnte weiter wachsen, wegen Umweltschäden und früherer Abtreibungen als Folgeder Ein-Kind-Politik. Sport könnte in der Gesundheitsvorsorge und Rehabilitation von behinderten Menschen eine wichtige Rolle spielen. Ob die Paralympics 2022 dafür eine Öffentlich-keit schaffen werden, bleibt abzuwarten. Erst seit 2002 nimmt China auch an den Winter-Paralympics teil. Seither hat es an diesen Anlässen erst zu einer Goldmedaille gereicht, 2018 im Rollstuhl-Curling. Es ist wahrscheinlich, dass diese Zurückhaltung an den kommenden Heimspielen in Peking ein Ende finden wird.