«Das ist einfach nur noch peinlich»

(St. Galler Tagblatt / St. Gallen-Gossau-Rorschach)

Markus Schefer, der erste Schweizer im UNO-Ausschuss für Behindertenrechte, über Mängel an Bushaltestellen und Kritik an SBB-Zügen.


Massiv im Rückstand: Die meisten Schweizer Bushaltestellen sind heute von Rollstuhlfahrenden noch immer nicht autonom benutzbar Bild: Gaetan Bally/Keystone

 

Benjamin Weinmann aus GenfEs ist Abend, als Markus Schefer, 54, ineinem GenferHotel nahe dem UNO-Hauptsitz, dem «Palais des Nations», zum Interview erscheint. Seit Anfang September und bis Ende Monat tagt der UNO-Ausschuss für Behindertenrechte, in den der Rechtsprofessor der Universität Basel 2018 als erster Schweizer gewählt wurde. Im Gespräch zieht er Bilanz – und äussert scharfe Kritik an der Schweiz.

Welches sind zurzeit die grossen Themen, die in Ihrem Gremiumbesprochen werden?

Markus Schefer: Ein grosser Teil unserer Arbeit besteht darin, Länderberichte zu prüfen, um zu sehen, inwiefern die Länder die UNO-Behindertenrechtskonvention erfüllen. In einem reichen Land werden andere Aspekte angeschaut als in einem armen Land oder in einem mit einer humanitären Krise, wie aktuell in Myanmar, wo die Rohingya verfolgt werden.

Welches Land ist bei den Behindertenrechten am weitesten?

Das lässt sich nicht sagen, da die Themen zu unterschiedlich sind.

Dann anders gefragt: Wo braucht es viel Überzeugungsarbeit?

In der Schweiz! Nicht nur bei den staatlichen Behörden, sondern auch bei den Behindertenverbänden. Sie sind Empfänger staatlicher Leistungen und wollen es sich nicht mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen verscherzen.Dabei müssten sie stärker die Grundrechte ihrer Mitglieder durchsetzen.Heute sind sie oftmals Bittsteller und suchen den Konsens. Dabei geht es darum, dass Menschen mit Behinderungen die gleichen Rechte zustehen wieallen anderen auch. Dafür lohnt es sich,falls nötig auch vor Gericht zu kämpfen.

Wieso ist gerade in der Schweiz soviel Überzeugungsarbeit nötig?

Vielleicht weil wir eine relativ gute IV haben. Da denkt die Bevölkerung rasch einmal: Was wollen sie denn noch mehr? Vieles geschieht aus einer Haltung: Ich helfe dir. Und nicht aus der Haltung: Du hast das gleiche Recht wie ich. Kürzlich las ich einen Artikel über einen Mann im Rollstuhl mit Sauerstoffmaske, dem ein Tisch in einem Restaurant verwehrt wurde, mit der Begründung, man könne ihn den anderen Gästen nicht zumuten. Das zeigt, wie weit der Weg noch ist. Es gibt 470 000 Menschen mit einer schweren Behinderung in der Schweiz, fast so viel wie die Bevölkerung der Stadt Zürich. Aber man sieht sie kaum.

Wie meinen Sie das?

Es ist eine sehr grosse Zahl von betroffenen Menschen, aber im Alltag sieht man sie nicht. Weil ein grosser Teil in Institutionen lebt. Und für viele ist der Bewegungsradius eingeschränkt, bei-spielsweise weil Strassenübergänge zu hohe Trottoirs haben, die nicht rollstuhltauglich sind. Wenn ein Platz barrierefrei umgebaut wird, sieht man plötzlich mehr Rollstuhlfahrer. Die gab es vorher auch schon, aber ihnen waren die Wege versperrt.

Laut einer Comparis-Studie von2017 sind nur 3,4 Prozent der Deutschschweizer Stadtwohnungen rollstuhlgängig. Was läuft dafalsch?

Die meisten Wohnungen sind in Privatbesitz. Im Bundesgesetz gibt es Vorschriften: Wenn ein Block mehr als neun Wohnungen hat, muss der Wohnungszugang barrierefrei sein. Die Wohnung selbst aber nicht. Die meisten Wohnhäuser in der Schweiz haben nur sechs oder acht Wohnungen. Die bestehenden Wohnhäuser müssen zudem nicht sofort umgebaut werden,sondern erst bei Arbeiten, die eine Baubewilligung erfordern.

Die rollstuhlgängigen Wohnungensind oft moderner und teurer …

Stimmt. Neue Wohnungen haben in der Regel einen hohen Ausbaustandard, dafehlt es an nichts. Folglich sind sie teurer. Menschen mit Behinderungen sindstatistisch weniger kaufkräftig. Undwas heisst schon barrierefrei? Wenn derWohnblock eine Fernsprechanlage hat,Sie aber nichts hören, nützt Ihnen das nichts. Genauso wie ein Bildschirm,wenn Sie blind sind. Es braucht halt mehr als lediglich Rollstuhlgängigkeit.

Genügt denn der Diskriminie-rungsschutz heute in der Schweiz?

Nein, insbesondere etwa bei der Arbeit.Wenn Sie wegen einer Behinderung von einem privaten Arbeitgeber entlassen werden, haben Sie absolut keinen Schutz. Null. Die Firma ist auch nichtverpflichtet, Anpassungen am Arbeitsort für Sie zu machen, damit Sie die Arbeit ausführen können, sogar wenn die IV die Kosten dafür übernehmen würde.Die Arbeitgeber wehren sich gegen jegliche Verbesserungen in diesem Bereich.

Die grösste Zugbestellung in der Geschichte der SBB droht zum Fiasko zu werden. Behindertenverbände stellen vor Gericht die Hindernisfreiheit in Abrede. Wiebeurteilen Sie diesen Zwist?

Die Beschwerde der Behindertenverbände ist nicht der Grund für die Lieferverspätungen. Der Lieferant Bombardier brachte es einfach nicht auf dieReihe, wie man inzwischen weiss. Es istsehr bedenklich, dass die SBB über 60 Züge bestellt haben, welche die nächsten 30 oder 40 Jahre im Einsatz, aber für durchschnittliche Rollstuhlfahrermit Handrollstuhl nicht selbstständig benutzbar sind. Für sie besteht wegen der steilen Rampe die Gefahr, beim Aussteigen umzufallen und sich den Kopf aufzuschlagen.

ÖV-Anlagen sowie Trams und Busse müssen bis Ende 2023 behindertentauglich sein. Dies schreibt das Behindertengleichstellungsgesetz vor. Die SBB sagen aber schon länger, dass sie das nicht erreichen werden. Droht ihnen dann eine Klagewelle?

So zurückhaltend wie die Gerichte solche Themen bisher angegangen sind,würde ich jedem Menschen mit Behinderung davon abraten zu klagen. Deshalb nehmen es ja die Verantwortlichenauch auf die leichte Schulter. Dabei wis-sen SBB und die Kantone von den Vorgaben seit 2004. Man gab ihnen zwan-zig Jahre, damit sie auf jeden Fall genügend Zeit haben. Aber vor zehn Jahren wurden in den Kantonen noch munter neue Bus- und Tramstationen gebaut mit Haltekanten, von denen man wissen musste, dass sie nicht behindertentauglich sein würden. Solche Vorkommnisse tragen bei der UNO natürlich nicht zur Glaubwürdigkeit der Schweiz bei.

Gemäss der Schweizer Fachstelle für hindernisfreie Architektur sind von den rund 50 000 Bushaltestellen erst 1000 umgebaut …

Bei den Bushaltestellen ist es einfach nur noch peinlich. Es ist jene Partei für den Umbau zuständig, der die Strasse gehört: die Gemeinde, der Kanton oder Private. Zudem kaufen manche ÖV-Betriebe noch heute Busse mit Türen, die nach aussen aufschwingen, was für mich unverständlich ist. Denn bei einer Haltekante mit den erforderlichen 23 Zentimeter Höhe geht eine solche Türe beim Offnen kaputt.

Bräuchte es mehr Kampagnen in der Schweiz für mehr Sensibilität?

Da bin ich etwas skeptisch. Gerade im Bereich der Menschenrechte besteht die Gefahr, dass man als überheblicher Gutmensch rüberkommt, der von der moralischen Kanzel predigt. Wichtiger ist, dass man Menschen mit Behinderungen direkt erlebt und auch ihre Probleme im Alltag. Deshalb denke ich,dass die inklusive Bildung auf längere Frist am wirksamsten ist, also die gemeinsame Ausbildung von Kindern mit und ohne körperliche, intellektuelle und psychosoziale Behinderungen. So wachsen Kinder früh mit Menschen mit Behinderungen auf und lernen, mit ihnen jeden Tag so zu leben wie mit anderen Menschen auch.

Was ist mit Quotenregelungen fürFirmen, damit sie mehr Menschen mit Behinderungen anstellen?

Das hätte politisch null Chancen …

… aber Sie würden eine Quotenregelung begrüssen?

Ja, ich glaube, es wäre eines der wenigen wirksamen Mittel im Bereich der Arbeit. Im Behindertengleichstellungsgesetz steht zudem, dass der Bund eine Vorbildfunktion einnehmen soll. Aberer hat kaum etwas unternommen.Es gibt enorm wenig Bundesangestellte mit einer Behinderung. Ich fände es richtig, dass der Bund vorangehen und eine Quote einführen würde und die Kantone folgen würden. Wenn wir vorwärtskommen wollen, müssten zumindest die staatlichen Arbeitgeber ein Vorbild sein. Sonst folgen die Privaten nie.

Nächstes Jahr prüft Ihre Kommission die Fortschritte der Schweiz.Wird dieser Mangel zur Sprache kommen?

Ich werde bei dieser Beurteilung alsSchweizer in den Ausstand treten. Aberman muss kein Prophet sein, um Kritikder UNO an der Schweiz kommen zusehen. Die Schweiz hat einen hohen Lebensstandard, von so einem Land darfman mehr als erwarten als beispielsweise von Vanuatu, das über 60 Inselnverteilt ist und ein zigfach kleineres BIP als die Schweiz aufweist.

Hinweis
Das komplette Interview gibts online


Markus Schefer wurde im Juni 2018in den UNO-Behindertenrechtsausschuss gewählt. Er ist der erste Schweizer im Gremium, das aus 18 Experten besteht. Der 54-Jährige ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht ander Universität Basel und Experte für Grund- und Menschenrechte. Für seine Arbeit bei der UNO erhält er eine Spesenentschädigung, keinen Lohn. DerBehindertenrechtsausschuss ist ein Organ der UNO-Behindertenrechts-konvention, welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Das Gremium überprüft die Umsetzung der Konvention und Markus Scheferentwickelt sie weiter.

«Die SBB und dieKantone wissen von denVorgaben seit 2004.»

Markus Schefer Rechtsprofessor der Universität Basel