Defizite nicht nur bei Bushaltestellen

(Tages-Anzeiger)

Für Menschen mit Behinderung gibt es im Kanton Zürich weiterhin zahlreiche Hindernisse. Eine Studie benennt die Mängel und fordert einen Massnahmenplan.


Der Weg bis zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung ist noch weit.
Foto: Gaetan Bally

 

Andrea Fischer

Die gleichen Rechte zu haben, genügt nicht. Man muss sie im Alltag auch leben können. Menschen mit Behinderung sollen selber bestimmen können, wo und wie sie leben wollen, gleichberechtigt mit anderen in die Gemeinschaft einbezogen sein und am öffentlichen Leben vollumfänglich teilhaben können. Dies verlangt die UNO-Behindertenrechtskonvention. Sie gilt seit Mai 2014 auch für die Schweiz und verpflichtet Bund, Kantone und Gemeinden, alles Nötige zu tun, um die genannten Ziele zu erreichen.

Eine gestern publizierte Studie der Behindertenkonferenz Kanton Zürich hat untersucht, wie es mit der Umsetzung der UNO-Konvention im Kanton Zürich steht. Die Untersuchung kommt zum Schluss, es seien Bemühungen festzustellen, und es gebe auch gute Beispiele.

Mitspracherecht verbessert den Prozess

So bekommt der Kanton etwa bei der Zugänglichkeit zu Gebäuden und zur Verkehrsinfrastruktur relativ gute Noten. Zumindest seien die gesetzlichen Grundlagen vorhanden. Bei der Durchsetzung des hindernisfreien Bauens zeigten sich aber teilweise grosse Mängel sowie Unterschiede zwischen den Gemeinden. Zudem werde nicht systematisch erfasst, wie es um die Barrierefreiheit von öffentlich zugänglichen Bauten stehe.

Dank niederfluriger Trams und Busse habe man auch im Verkehr einiges erreicht, doch seien viele Bushaltestellen für Menschen mit Behinderungen nicht nutzbar. Allgemein gehe es zu langsam voran.

Dass der Bereich Bauten und Mobilitätsinfrastruktur in der Studie vergleichsweise gut wegkommt, liegt unter anderem daran, dass hier die Betroffenen konsequent mitreden können. So sind in den verschiedenen Kommissionen und Arbeitsgruppen auch Menschen mit Behinderung vertreten. Ferner gibt es die Bauberatung der Behindertenkonferenz, sie wird vom Kanton beigezogen, wenn es Probleme mit Bauprojekten gibt.

Darüber hinaus sei die Mitwirkung nicht gewährleistet. So gingen Menschen mit einer psychischen oder kognitiven Behinderung bei Gleichstellungsfragen oft vergessen. Es fehle im Kanton Zürich an einer Sensibilisierung für die verschiedenen Behinderungsarten. Namentlich psychisch Behinderte müssten sich oft rechtfertigen und sich den Vorwurf gefallen lassen, sie würden den Sozialstaat missbrauchen, bemängeln die Autoren der Studie. Es sei nötig, die Interessen aller Gruppen von Behinderten aktiv einzubeziehen und die ungelösten Probleme mit ihnen und ihren Interessenvertretern systematisch anzugehen.

Die mangelnde Sensibilisierung schlägt sich auch im Bereich Kommunikation nieder. Zwar ist das Recht auf Gebärdensprache in der kantonalen Verfassung verankert. Jedoch gebe es keine verbindlichen Standards für eine hindernisfreie Kommunikation mit den kantonalen Behörden, von der alle kommunikativ beeinträchtigten Personen profitieren könnten.

Betroffene unterstützen statt Institutionen

Defizite ortet die Studie schliesslich auch beim Recht auf unabhängige Lebensführung. Wer imAlltag auf Unterstützung angewiesen ist, braucht dafür die nötigen Mittel. Reicht das Geld der Invalidenversicherung nicht aus, stehen die Kantone in der Pflicht. Weil aber der Kanton Zürich nicht die Betroffenen selber unterstützt, sondern die Behindertenheime und -institutionen subventioniert, sind insbesondere Menschen mit einer schweren Behinderung faktisch gezwungen, in ein Heim zu ziehen.

In diesem Bereich zeichnet sich eine Verbesserung ab. So hat der Kantonsrat im Juni einen Systemwechsel beschlossen. Künftig sollen die Betroffenen direkt unterstützt werden, entsprechend ihrem Bedarf. Damit ist es ihnen freigestellt, ob sie die Mittel für ein Leben im Heim oder ausserhalb einsetzen wollen. Bis es so weit ist, dürfte es noch ein paar Jahre dauern. Erst dann wird sich auch zeigen, ob genügend Mittel bereitgestellt werden, damit das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben für alle umsetzbar ist.

Gemeinden sind überfordert mit Gleichstellung

Abgesehen von einzelnen Teilbereichen üben die Verfasserinnen und Verfasser der Studie auch grundsätzliche Kritik. Es sei «höchst problematisch», dass der Kanton kein Rahmengesetz habe zur Förderung der Rechte von Menschen mit Behinderung. Nirgends sei definiert, welche Rechtsansprüche die Betroffenen hätten und wie sie diese durchsetzen könnten. Mangels Gesetz gebe es auch keine kantonale Behindertengleichstellungspolitik: Es seien weder konkrete Ziele noch Massnahmen festgelegt.

Auch würden die Gemeinden vom Kanton zu wenig unterstützt. Vor allem kleine und mittelgrosse Gemeinden seien mit der Umsetzung der Behindertengleichstellung überfordert und reagierten meist erst, wenn ein konkretes Problem vorliege.

Besser sehe es in grösseren Städten aus. Als positive Beispiele erwähnt die Studie namentlich Zürich und Uster. Beide hätten 2017 spezielle Stellen geschaffen zur Koordination von Fragen der Behindertengleichstellung. Eine solche Koordinationsstelle empfehlen die Verfasserinnen und Verfasser der Studie auch dem Kanton. Zudem schlagen sie einen konkreten, zeitlich terminierten Massnahmenplan zur Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention vor.

Die Studie wurde von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) durchgeführt. Zwischen August 2017 und Juli 2018 haben die Autoren die Gesetzeslage dokumentiert, Interviews mit Fachpersonen geführt sowie Regierungsratsbeschlüsse und Zeitungsartikel analysiert.

Finanziert hat die Untersu- chung das kantonale Sozialamt. Dort will man sich vorerst zur Kritik und zu den Empfehlungen nicht äussern. An einer Medienkonferenz im November werde man über die nächsten Schritte informieren.