Der Nachteilsausgleich bewährt sich

(Panorama / Bildung Beratung Arbeitsmarkt)

Der Nachteilsausgleich bewährt sich

Eine Studie zeigt, dass der Nachteilsausgleich zur Chancengleichheit beiträgt und viele Betroffene nach dem Schulabschluss erfolgreich ins Erwerbsleben übertreten. Bei der konkreten Umsetzung an Berufs- und Mittelschulen besteht aber immer noch Verbesserungspotenzial.

Von Claudia Schellenberg, Dozentin an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zürich

Verglichen mit der Sekundarstufe I gibt es auf der Sekundarstufe II wenige spezifische Massnahmen für Jugendliche mit einer Beeinträchtigung. Ein wichtiges Instrument ist der Nachteilsausgleich, der dazu dient, Einschränkungen durch Behinderungen aufzuheben oder zu verringern, indem die Bedingungen des Lernens und Prüfens den Bedürfnissen der Lernenden mit Beeinträchtigung angepasst werden. Grundlage dafür ist das Behindertengleichstellungsgesetz vom 13. Dezember 2002, das vorschreibt, dass Massnahmen zur Gleichstellung von Menschen mit einer Behinderung ergriffen werden sollen. Eine Studie der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) untersuchte, wie der Nachteilsausgleich an Berufsfachschulen und Mittelschulen derzeit verwendet wird.

Häufigster Grund ist Dyslexie

Die Studie zeigt, dass die Zahl der Gesuche in den letzten Jahren zugenommen hat. Während der beruflichen Grundbildung dürften 2017 gegen 1000 Lernende einen Nachteilsausgleich in Anspruch genommen haben. Gemessen am Gesamtbestand der Lehrverträge liegen die Quoten je nach Kanton zwischen 0,2 bis 4,3 Prozent (2010 bis 2016), in den meisten Kantonen jedoch unter 1 Prozent. Nur die Kantone Neuenburg (1,1 bis 2,4 Prozent) und Genf (3,0 bis 4,3 Prozent) weisen höhere Quoten auf. Trotz lückenhaften Zahlen zeigt sich, dass Nachteilsausgleiche an Berufsfachschulen doppelt so häufig wie an Mittelschulen vorkommen. Der häufigste Grund für einen Nachteilsausgleich ist mit Abstand Dyslexie, gefolgt von AD(H)S, Dyskalkulie und anderem (zum Beispiel chronischen Erkrankungen, Problemen mit der Sprache). Der Nachteilsausgleich kommt in drei Vierteln der Fälle in der Berufsbildung erst beim Qualifikationsverfahren zum Einsatz. Häufigste Massnahmen sind die Gewährung von zusätzlicher Zeit bei Prüfungen und der Einsatz von technischen Hilfsmitteln wie Wörterbüchern oder Computern. Andere Massnahmen wie die Anpassung der Aufgabenstellung oder Prüfungsform (zum Beispiel mündliche statt schriftliche Prüfung) oder die Modifikation der Bewertungskriterien (zum Beispiel Nichtberücksichtigen der Grammatik) werden deutlich weniger häufig eingesetzt. Die befragten Schulen erwähnen oft, dass sie die Umsetzung solcher Massnahmen als schwierig erleben. Teil der Studie war auch die Befragung von jungen Erwachsenen nach Ausbildungsabschluss, die einen Nachteilsausgleich erhielten. Viele geben an, dass sie es (im Rückblick) als aufwendig erlebten, einen Nachteilsausgleich zu bekommen, und sie sich nicht gut informiert fühlten. Dafür erlebten sie dann die Umsetzung an der Schule meist als problemlos und auch die Akzeptanz unter Kolleginnen und Kollegen als gross. Etwas weniger als die Hälfte der befragten Jugendlichen führt einen erfolgreichen Sek-II-Abschluss explizit auf den Nachteilsausgleich zurück.

Übergang in den Arbeitsmarkt

71 Prozent der ehemaligen Berufslernenden mit einem Nachteilsausgleich gehen ein Jahr nach Abschluss einer bezahlten Erwerbstätigkeit nach, jede fünfte Person (19 Prozent) absolviert eine Weiterbildung und 9,7 Prozent haben bisher keine bezahlte Arbeit gefunden. Die Zahlen sind vergleichbar mit der Durchschnittsbevölkerung desselben Alters (zum Beispiel im Jugendlängsschnitt TREE). Zwei Drittel der befragten Mittelschülerinnen und -schüler studieren direkt nach Abschluss an einer Hochschule, das restliche Drittel macht etwas anderes (zum Beispiel Militärdienst oder ein Praktikum). Die Zufriedenheit der Jugendlichen mit verschiedenen Aspekten der Arbeit ist hoch. Nur eine Minderheit (knapp 10 Prozent) sah sich bei der Integration in einem neuen Team und mit einem neuen Vorgesetzten mit Schwierigkeiten konfrontiert. Im Zeugnis ist der Nachteilsausgleich nicht aufgeführt, da die erreichten Lernziele und -inhalte nicht verändert wurden. Rund die Hälfte der befragten Berufs- und Mittelschulen erwähnt jedoch, dass die Arbeitgeber über den Nachteilsausgleich informiert werden sollten. Dies widerspiegelt vermutlich die Vorstellung, dass nach Schulabschluss womöglich weiterhin Anpassungen erforderlich sind. Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass nur ein kleiner Teil (13 Prozent) weitere Anpassungen am Arbeitsplatz benötigt (wie z. B. Einstellung Telefonlautstärke, angepasste Tastaturen). Fast die Hälfte der Jugendlichen (44 Prozent) berichtet ihren Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern von sich aus, dass sie an der Schule einen Nachteilsausgleich hatten. Die meisten Betriebe nehmen diese Information gut auf, bei rund einem Viertel löste sie jedoch Unsicherheiten aus.

Vorschläge zur Verbesserung

Wie können die Umsetzung des Nachteilsausgleichs verbessert und Bildungsgerechtigkeit gefördert werden? Ein wichtiger Punkt ist, dass die Informationen über den Nachteilsausgleich an den Schulen und in den Kantonen besser gestreut werden, sodass alle betroffenen Jugendlichen und deren Eltern frühzeitig von dieser Möglichkeit Gebrauch machen können. Insbesondere ist darauf zu achten, dass bildungsferne Eltern zu den entsprechenden Informationen gelangen. Denn für die Gewährung eines Nachteilsausgleichs sind ein Antrag der Erziehungsberechtigten sowie die ärztliche Bescheinigung einer Beeinträchtigung erforderlich. Der Übergang an der zweiten Schwelle (von der Sekundarstufe II in den Beruf oder in eine weiterführende Ausbildung) läuft für die Jugendlichen mit und ohne Nachteilsausgleich vergleichbar ab. In wenigen Fällen brauchen Jugendliche mit einer Beeinträchtigung und erhaltenem Nachteilsausgleich bei der Arbeitsstelle weiterhin Anpassungen; dort könnte es für die Arbeitgebenden sinnvoll sein, mit den ehemaligen Lehrpersonen (oder ärztlichen Fachpersonen) der Jugendlichen Kontakt aufzunehmen und den Anpassungsbedarf abzusprechen. Weiter stehen die Lehrpersonen der Sekundarstufe II zunehmend Jugendlichen gegenüber, welche verschiedene Problemlagen aufweisen. Der Unterricht fordert in Zukunft wohl mehr Individualisierung und dazu nötige Prinzipien einer «integrativen Didaktik». Eine Folgestudie unter dem Titel «Enhanced Inclusive Learning (EIL)» der HfH und der Hochschule für Soziale Arbeit Luzern widmet sich dieser Thematik. Sie geht vor allem der Frage nach, wie Massnahmen des Nachteilsausgleichs im Unterricht genau eingesetzt werden und wie ein entsprechendes Schulungsangebot für Lehrpersonen aufgebaut werden könnte.