Der neue Gesundheits-Auftragder Sozialhilfe

(Der Bund)

Fürsorge
Das Stadtberner Sozialamt stellt eine klare Verschiebung von der IV zurSozialhilfe fest. Auf Gesundheitsthemen sei die Sozialhilfe aber zu wenig vorbereitet.

Brigitte Walser
Wer wegen einer lang andauernden gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht mehr selber für sich sorgen kann, für den kommt die Invalidenversicherung (IV) auf. Dieser Grundsatz wankt, zumindest gemäss der Einschätzung des Stadtberner Sozialamts.Es berichtet von einer Zunahme von Leuten mit gesundheitlichen Problemen, die in der Sozialhilfe landen. Das bringe die Sozialarbeit an ihre Grenzen und verändere ihren Auftrag.

In Bern kann ein Viertel der erwachsenen Sozialhilfebezüger- das sind gut 1000 Personen -aus gesundheitlichen Gründen nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden. Die verschärfte Zulassungspraxis bei der IV habe zu einer Verlagerung in die Sozialhilfe geführt, und diese Entwicklung werde anhalten, schreibt das Sozialamt in einem Grundlagenpapier, das es am Dienstag den Medien vorstellte.

Hohe Hürden

«Es gibt immer mehr Personen,die zu gesund für die IV, aber zu krank für den Arbeitsmarkt sind»,sagte Sozialamts-Leiter Felix Wolffers. Für diese Personen bleibe oft nur die Sozialhilfe. So «fallen Einsparungen bei der IV auf Bundesebene an, die Mehrkosten für die Sozialhilfe belasten jedoch die kantonale und kommunale Ebene», heisst es im Grundlagen-papier von Wolffers Amt.

Bei der IV hält man nicht viel von solchen Aussagen. Statt sich gegenseitig zu kritisieren und steigende Kosten mit «Sparmassnahmen» des anderen zu begründen, sollte man viel mehr am gleichen Strick ziehen, schreibt Dieter Widmer, Direktor der IV-Stelle Kanton Bern, in der Zeitschrift für Sozialhilfe. Er räumt ein, dass die Hürde für den Bezug einer Invalidenrente hoch ist.Die IV müsse für die Bemessung des Invaliditätsgrads mit jenem Einkommen rechnen, das die Person bei einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt erzielen könnte. Ob die Person eine entsprechende Stelle auch tatsächlich findet,darf die IV nicht berücksichtigen.Für das Berner Sozialamt liegt genau hier ein Problem: Personen, die gesundheitlich angeschlagen sind, finden kaum eine Stelle, auch wenn sie als eingliederungsfähig gelten.

Vor diesem Hintergrund will Wolffers künftig daran arbeiten,die gesundheitliche Situation der Sozialhilfebezüger zu verbessern mit dem Ziel, ihnen zu mehr Selbstständigkeit zu verhelfen. Auf diese «Veränderung ihres Auftrags» seien die Sozialämter bisher zu wenig vorbereitet gewesen.

Im neuen Grundlagenpapier setzt sich das Berner Sozialamt deshalb das Ziel, die Gesundheitssituation der Betroffenen möglichst zu stabilisieren, die Lebensqualität zu verbessernund die Chancen auf eine berufliche Integration zu erhöhen -aber auch die Sozialarbeiter zu entlasten. Und nicht zuletzt hofft es auf eine finanzielle Entspannung: Eine frühere Studie hat gezeigt, dass Personen mit Sozialhilfe doppelt so hohe Gesundheitskosten haben wie die Durchschnittsbevölkerung.

«Keine Wunder»

Um das Ziel zu erreichen, können Sozialarbeiter bei unklaren gesundheitlichen Situationen Fachleute der Universitären Psychiatrischen Dienste beiziehen und bei komplexen Situationen mit Experten von Gesundheitsligen zusammenarbeiten. In Planung ist zudem ein Projekt mit dem Schweizerischen Roten Kreuz(SRK): Ab Herbst können Sozialhilfebezüger einen Gesundheitskurs besuchen und dort ein persönliches Gesundheitsziel definieren. SRK-Freiwillige begleiten sie anschliessend während dreier Monate bei der Arbeit an diesem Ziel. Die Kosten für diesen Pilot-versuch «Zämä zwäg» werden mehrheitlich vom SRK übernommen.

Gemäss Oliver Hümbelin, Experte für Armut und Ungleichheit, verfolgt die Stadt mit ihrem Vorgehen wichtige Ansätze. Für den Professor an der Berner Fachhochschule (BFH)ist klar: Sozialdienste müssen das Thema Gesundheit strategisch verorten und Angebote zur Gesundheitsförderung aufbauen. Schliesslich hätten Sozialämter den gesetzlichen Auftrag, ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Von jenen Personen, die über längere Zeit Sozialhilfe beziehen, haben gemäss einer Studie der BFH gut 60 Prozent mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu kämpfen. «Ginge es ihnen gesundheitlich besser, würde es ihnen auch eher gelingen, wieder auf eigenen Füssen zu stehen», so Hümbelin.

Der Experte weist aber auch darauf hin, dass sich bei vielen Personen der Gesundheitszustand verschlechtert, noch bevor sie Sozialhilfe beziehen. Studien zeigten, dass Menschen mit wenig Geld eher auf Vorsorgeuntersuchungen oder Zahnarztbesuche verzichten. Deshalb sei das Problem komplex und könne nicht von heute auf morgen und auch nicht allein von der Sozialhilfe gelöst werden, schreibt Hümbelin auf Anfrage. Das sieht Wolffers ähnlich: Er erwarte«keine Wunder». Denn gerade bei chronischen Erkrankungen seien kurzfristige Erfolge sehr selten.


Gesundheitliche Probleme und Sozialhilfe: Für das Sozialamt der Stadt Bern ein zentrales Thema. Foto: Urs Jaudas