«Der Schlüsselbegriff ist Inklusion»

(Links / SP Schweiz)


„Der Schlüsselbegriff ist Inklusion „

 

Zum ersten mal überhaupt warb die sp schweiz beim co2-gesetz mit einem video in gebärdensprache für eine vorlage. Auf nationaler ebene reichte die sp mehrere vorstösse für eine bessere inklusion von gehörlosen ein. Doch für wen setzt sich die sp da ein? Eine annäherung mit fernanda falchi und andre marty, verantwortliche für public affairs beim schweizerischen gehörlosenbund.

Vorneweg, darf man heute noch «taub» sagen?

Fernanda Falchi: Wir sagen gehörlos. Der alte Begriff «taub» oder gar «taubstumm» ist diskriminierend. Gehörlose hören einfach nichts, sie verfügen aber über dieselben Fähigkeiten wie Hörende.

Auf eurer Website heisst es, auch geschriebene Texte seien für Gehörlose schwer verständlich. Wie lässt sich das erklären?

André Marty: Die Muttersprache von Gehörlosen ist die Gebärdensprache. Mit Bewegungen werden Wörter und ganze Sätze zusammengefasst. Buchstaben hingegen entsprechen einzelnen Lauten, die Gehörlose ja nie gehört haben. Der Zusammenhang entsteht über den Klang. Geschriebene Wörter sind für Gehörlose zufällig geordnete Buchstabenfolgen, die sie zunächst auswendig lernen und dann mit Inhalt füllen müssen. Das Wort «Tisch» zu erklären ist einfach,«Solidarität» schon schwieriger.

Fernanda Falchi: Erschwerend kommt das generell eher tiefe Bildungsniveau von Gehörlosen hinzu. In ihrer Muttersprache gab
und gibt es nur wenige Bildungsangebote. Ein grosser Teil der Bildung wird auch heute noch über die gesprochene Sprache vermittelt. Über das Lippenlesen werden aber nur 3o bis 4o Prozent der Inhalte verstanden. Dadurch entsteht ein Bildungsrückstand. Gebärdensprache sollte parallel mit der geschriebenen Sprache unterrichtet werden. Die geschriebene Sprache ist für Gehörlose eine Fremdsprache, die anstrengend zu lesen ist.

Was hat sich mit der Corona-Pandemie für Gehörlose verändert?

Fernanda Falchi: Seit die Medienkonferenzen des Bundesamts für Gesundheit immer in Gebärdensprache übertragen werden, hat sich das Verständnis in der breiten Bevölkerung erhöht. Früher war es beispielsweise im Zug unmöglich, vom Kondukteur eine Auskunft zu bekommen. Heute klappt die Verständigung irgendwie besser. Aber mit Masken ist das Lippenlesen unmöglich. Es gibt welche mit einem Fenster vor dem Mund. Das ist jedoch nicht optimal, denn sie beschlagen oder spiegeln die Umgebung. Am einfachsten ist es, genug Abstand zu halten und die Maske abzunehmen. Oder einfach auf Stift und Papier zurückzugreifen.

Welches Verhalten wünschen sich Gehörlose denn von Hörenden?

Fernanda Falchi: Der Schlüsselbegriff ist Inklusion, auch wenn die Welten wohl immer getrennt bleiben werden – Kultur und Sprache sind zu unterschiedlich. Es erleichtert die Verständigung, wenn Hörende deutlich Hochdeutsch sprechen und sich auch nicht scheuen, mal Hände und Füsse zu Hilfe zu nehmen. Auch Gehörlose müssen sich Mühe
geben. Das Wichtigste sind Austausch und Kontakte, damit Hörende einen Einblick in die Welt von Gehörlosen erhalten. Wenn man will, findet man immer einen Weg sich verständlich zu machen.

Der SP ist die Teilhabe von Gehörlosen ein grosses Anliegen. Wie lässt sich die Inklusion fördern?

André Marty: In der Schweiz leben 10 000 Gehörlose und rund eine Million Hörbehinderte. 2014 hat die Schweiz die Behindertenkonvention der UNO unterzeichnet, doch
mit der Umsetzung hapert es. Zentral ist die Anerkennung der Gebärdensprache als offizielle Landessprache. Dies würde unseren
Einsatz für gleiche Rechte und Chancen, fürzweisprachige Bildung und für den Abbau von Kommunikationsbarrieren erleichtern.
Konkret braucht es viel mehr DolmetschAngebote, sei es im Beruf, im Gesundheitswesen oder in der Politik.

Kannst du ein Beispiel machen?

Fernanda Falchi: Die Bundeskanzlei veröffentlicht nur eine kurze Zusammenfassung des Abstimmungsbüchleins in Gebärdensprache. Das reicht nicht und erschwert Gehörlosen den Zugang zur Politik enorm. Wir sind darum auch froh um die Vorstösse der SP-Nationalrätinnen Gabriela Suter und Valérie Piller Carrard. Die Dolmetsch-Angebote können Gehörlose nicht selbst finanzieren. Da sind Vereine, Parteien oder die öffentliche Hand in der Pflicht.

Werdet ihr gehört?

Fernanda Falchi: Barrieren lassen sich nicht von heute auf morgen abbauen. Dass die SP zusammen mit der FDP eine Vorlage in Gebärdensprache vorstellte, stimmt uns zuversichtlich. Sinnvollerweise erklärt die SP ihre Positionen und Werte ebenfalls in einem Gebärdensprache-Video. Heute macht die Partei einen ersten wichtigen Schritt, indem sie sich bewusst wird, welche Barrieren Gehörlose zu überwinden haben.


DIE VORSTÖSSE

Damit Parlamentsdebatten verstanden werden

SP-Nationalrätin Gabriela Suter verlangt, dass die Live-Übertragungen aus dem National- und Ständerat mit Untertiteln versehen werden. Weiter sei zu prüfen, ob gewisse Debatten in Gebärdensprache übersetzt werden können.Heute ist es Gehörlosen nicht möglich, den nationalen Parlamentsdebatten online zu folgen. Mit der Untertitelung würde die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am politischen Leben gefördert, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention fordert.

Damit der Notruf klappt

Bei einem Notfall zählt jede Sekunde. Doch Gehörlose können heute per Telefon weder die Polizei noch die Ambulanz rufen. Für sie sind Telefonanrufe nur über eine langwierige Vermittlung möglich. Die Freiburger SP-Nationalrätin Val6rie Piller Carrard verlangt daher die Schaffung eines barrierefreien digitalen Notruf-Angebots. Technische Möglichkeiten wären vorhanden, doch fehlen die gesetzlichen Grundlagen.

Beide Vorstösse sind hängig.


ZUR PERSON

Fernanda Falchi, 24, gehörlos, ist beim Schweizerischen Gehörlosenbund für Public Affairs zuständig. Sie kam als 17-Jährige aus Brasilien in die Schweiz, lernte Deutsch in Schrift- und Gebärdensprache und absolvierte im Service eine Lehre, die sie als Kantonsbeste abschloss. Sie lebt im Kanton Aargau und setzt sich seit einem Jahr beim Gehörlosenbund für die Rechte der Gehörlosen ein.

Andre. Marty, 29, hörend, studierte Geschichte und Politik und ist beim Schweizerischen Gehörlosenbund für Public Affairs verantwortlich. Als er die Stelle antrat, musste er sich in Rekordzeit «und mit Begeisterung» die Gebärdensprache aneignen. André Marty ist Mitglied der SP und lebt im Kanton Luzern.