Der Slogan «Keine Rente unter 30» ist vom Tisch

(Neue Zürcher Zeitung)

Gastkommentar
von THOMAS IHDE UND ROGER STAUB

In der eben veröffentlichten, im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen durchgeführten Studie «Berufliche Eingliederung aus Versichertenperspektive» kommt der Studienautor Niklas Baer zu einem simplen Schluss: «Der Erfolg von IV-Eingliederungsmassnahmen bei psychisch Kranken ist gering.»

Für die Schweizerische Stiftung Pro Mente Sana kommt auch der neueste Befund nicht unerwartet. Psychische Erkrankungen treten oft früh im Leben auf und führen dazu, dass Betroffene häufiger ihre Lehre abbrechen und/oder keine höhere Bildung in Angriff nehmen können. Muster von familiären Problemen in der Jugend setzen sich als Probleme in der Schule und später am Arbeitsplatz fort.

Zur Erinnerung: Baer hat schon 2009 eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass eine von drei Personen, die infolge psychischer Probleme eine Rente beziehen, bei Eltern mit psychischen Problemen aufgewachsen ist. Dazu gehen psychische Probleme bei vier von fünf Betroffenen mit deutlichen physischen Beeinträchtigungen einher. Schwere psychische Probleme führen zum Verlust des sozialen Umfelds, ungefähr jeder zehnte Betroffene fühlt sich sehr alleine und von der Gesellschaft ausgeschlossen und hat keine Person seines Vertrauens.

Wenn Eingliederung heute gelingen soll, dann nur – das zeigt die Studie Baer eindrücklich auf – wenn eine Reihe von günstigen Faktoren zusammenwirken. Die Beziehung zwischen IV-Berater und Versichertem ist zentral, die Eingliederungsmassnahmen müssen zum Versicherten passen, und ohne Koordination zwischen IV, Arzt, Arbeitgeber und Angehörigen geht es nicht. Wir sind aufgrund unserer Erfahrung überzeugt, dass es möglich ist, mehr Eingliederungserfolg zu erzielen.

Probleme in der Jugend setzen sich in der Schule und später am Arbeitsplatz fort.

Es muss uns aber bewusst sein, dass psychische Krankheiten den Menschen doppelt, nämlich sowohl als Individuum als auch als soziales Wesen, betreffen: Psychische Krankheiten beeinträchtigen das Selbst und die Beziehungsfähigkeit. Gesundung ist möglich, aber nur, wenn die existenziellen Grundbedürfnisse abgedeckt sind (Wohnen, Ernährung) und Betroffene nicht vereinsamt bleiben. Einsamkeit macht so krank wie starker Alkoholkonsum oder Rauchen! Und, ganz zentral, Gesundung braucht Zeit, viel Zeit. Jeder Wechsel in der Zuständigkeit für «den Fall» kann einen Rückfall auslösen. Ebenso wie zu viel Druck. Oder das Gefühl des Ausgeliefertseins, das gemäss Studie Baer ein Viertel bis ein Drittel der psychisch kranken Versicherten empfinden. Wir müssen gerade für junge Erwachsene mit grossen psychischen Problemen neue Wege suchen, um die Genesung möglich zu machen. Zuerst ist die Lebensgrundlage zu sichern etwa mit einer Übergangsrente. Seit 10 Jahren bilden der Verein Ex-In Bern und die Pro Mente Sana jedes Jahr eine Gruppe von Peers aus: Menschen mit überwundener psychischer Erschütterung qualifizieren sich in einer 1,5 Jahre dauernden Weiterbildung zum «Experten aus Erfahrung». Jungen, psychisch erkrankten Erwachsenen wollen wir einen erfahrenen Begleiter zur Seite stellen, der sein Erfahrungswissen dem Versicherten weitergeben kann und ihn über lange Zeit begleitet.

Mit gesicherter Existenz und einer stabilen Beziehung zu einer Vertrauensperson kann die betroffene Person ihren eigenen Genesungsweg suchen und gehen und nach Gelingen dieser Schritte auch wieder in die Arbeitswelt eingegliedert werden. In dieser Reihenfolge und ohne populistische Slogans wie «Keine Rente unter 30». Vergessen wir nicht, dass eine Investition in die Genesung von jungen, psychisch kranken Menschen im Erfolgsfall uns allen die Finanzierung von vielen Jahren Invalidenrente sparen kann.

Thomas Ihde leitet die Psychiatrischen Dienste der FMI-Spitäler in Interlaken und ist Präsident des Stiftungsrates der Stiftung Pro Mente Sana in Zürich; Roger Staub ist Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana.