Der Weg zur Barrierefreiheit ist voller Hindernisse

(suedostschweiz.ch)

Bis zum Jahr 2023 muss Graubündens öffentlicher Verkehr barrierefrei funktionieren. Das betreffende Gesetz ist bereits im Jahr 2003 verabschiedet worden. Die Behindertenorganisationen sehen noch grossen Handlungsbedarf, vor allem im Bereich der Bushaltestellen in Randgebieten.

Drei Jahre bleiben Graubünden, um die Standards des 2003 verabschiedeten Behindertengleichstellungsgesetz(BehiG) zu erfüllen. Darin wird unter anderem vorgeschrieben, dass der öffentliche Verkehr Rollstullfahrenden barrierefrei zugänglich sein muss. Getan habe sich in den letzten eineinhalb Jahrzehnten wenig, sagt Marc Moser vom Behinderten-Dachverband Handicap Inclusion. Nach wie vor genüge die Mehrzahl der Bündner Haltestellen den Vorgaben des Bundesgesetzes nicht.

Simple Sache

Graubündens insgesamt 2800 Bushaltestellen barrierefrei umzugestalten, klingt erstmal nach einem ziemlich aufwändigen Unterfangen. Dies schwächt Moser jedoch ab: «Es wäre je nachdem eine recht simple Sache. Oftmals müsste einfach nur das Trottoir erhöht werden.» Eine Erhöhung der Bürgersteige auf 22 Zentimeter soll bewirken,dass Rollstuhlfahrende ohne zusätzliche Hilfe «niveaugleich» in die Busse einsteigen könnten. Ein Herunterklappen der Rollstuhlrampen durch den Buschauffeur gilt im Sinne des BeHiG nicht als Barrierefreiheit. Das Ziel ist, dass Rollstuhlfahrende selbstständig und unabhängig ein- und aussteigen können – auch ohne Hilfeleistung vonBusfahrern oder Passanten.

Weiter weiss Moser von Fällen, wo Haltestellen saniert worden sind, ohne das 2003 verabschiedete Bundesgesetz nur ansatzweise zu berücksichtigen. Der Kommunikationschef des bundesweiten Verbands wolle mit dieser Aussage aber nicht explizit mit dem Finger auf Graubünden zeigen. Ihm sei bewusst, dass die Verhältnismässigkeit zwischen Kosten und Nutzen in einem dünn besiedelten Kanton wie Graubünden nicht in allen Fällen gegeben ist.

Kosten bleiben an Gemeinden hängen

Hier zeichnet sich ein grosses Problem im Projekt Barrierefreiheit 2023 ab. Denn: Die Eigentümer der Haltestellenseien die Gemeinden selbst, denen oftmals das Know-how, das Geld und das Bewusstsein für die Thematik fehle,sagt Roman Brazerol von der Abteilung Bauberatung der Behindertenorganisation Pro Infirmis Graubünden. Im Herbst 2019 hat der Kanton darum entschieden, den Gemeinden bei den Anpassungen ihrer Haltestellen mit 25 Millionen Franken unter die Arme zu greifen. Dies geschah gemäss Brazerol zum Teil auch auf Druck der Pro Infirmis. Zwanzig Einsprachen habe der Verein in den letzten Jahren gegen geplante ÖV-Haltestellen eingebracht.Überall dort, wo er die Vorgaben des BehiG als nicht erfüllt sah.

«Der Kanton ist dran und macht seinen Teil», so Brazerol. Aber: Die Randgebiete würden gemäss seiner Einschätzung weiterhin auf der Strecke bleiben. Hier sei es zu einfach, eine «fehlende Verhältnismässigkeit» vorzuschieben. Der Kanton kann sich in Zweifelsfällen auf das sogenannte Verhältnismässigkeitsprinzipberufen. Laut Brazerol müsse der barrierefreie ÖV aber vor allem in den Randgebieten funktionieren. Alles andere führe zu einer Einschränkung der Lebensqualität der Betroffenen. «Ein Rollstuhlfahrer, der beispielsweise in Alvaschein wohnt und zum Einkaufen nach Thusis fahren will, ist auf hindernisfreien ÖV angewiesen.» Andernfalls sei die Person gezwungen, in ein städtischeres Umfeld zu zügeln, was in weiterer Folge die Entvölkerung der jeweiligen Region fördern würde, so Brazerol. Auch Senioren mit altersbedingten Einschränkungen, sowie Eltern mit kleinen Kindern würden von einem hindernisfreien ÖV in der Peripherie profitieren.

Barrierefreies Bürokratiegeschwurbel

Überhaupt wird man im Gespräch mit Brazerol den Eindruck nicht los, dass mit dem Amtsschimmel bisweilen die Zügel durchgehen; zu viele Parteien seien in den Prozessen der Entscheidungsfindung involviert. «Wir hatten im Frühling eine Sitzung in der Region Viamala, bei der zwanzig Personen am Tisch sassen», erzählt Brazerol. Die verschiedenen Ämter, die Verkehrspolizei, die Postauto AG, Gemeinden, Behindertenorganisationen, private Eigentümer – jeder meint, ein Wörtchen mitreden zu müssen. «Die Ämter haben auch ihre Differenzen untereinander», so Brazerol.

Dies verdeutlicht sich auch auf Bundesebene. Brazerol berichtet von einer Einsprache der Pro Infirmis gegen dengeplanten Bau einer Haltestelle der RhB-Arosabahn in Chur. Das Bundesamt für Verkehr lehnte das Veto ab – ein stufenloser Zustieg in die Touristenattraktion Arosabahn sei nicht erforderlich. Dasselbe Bundesamt bezeichnet die Umsetzung der Anpassungen an das BehiG auf seiner Homepage als «auf gutem Wege». Bei der Rhätischen Bahn selbst habe mittlerweile aber ein Umdenken stattgefunden, sagt Brazerol. Die Bahn gibt vor, bis 2023 «zu 95 Prozent barrierefrei im Personenverkehr» aufzutreten zu können.

Selbstkritik

Brazerol sieht jedoch davon ab, allen anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben. «Auch die Behindertenorganisationen haben verschlafen», gibt sich der Pro-Infirmis-Bauberater selbstkritisch. Als das Gesetzverabschiedet wurde, habe man sich hauptsächlich auf Bahnhöfe konzentriert, die Bushaltestellen gerieten ins Hintertreffen. «Das Bewusstsein für die Sache war um 2003 einfach noch nicht so ausgeprägt.»


Blosse Rampen
– die der Buschauffeur manuell ausklappen muss –
gelten nicht als Barrierefreiheit im Sinne des BehiG.
Yanik Buerkli / ARCHIV