Der Winter sperrt sie ein

(Schweiz am Wochenende / St. Galler Tagblatt)

Die einen feiern den Schnee, anderen erschwert er den Alltag: Die weisse Pracht isoliert Ältere oder Blinde zusätzlich.

Diana Hagmann-Bula

Es hat geschneit, viel geschneit.Und nun ist der getaktete Alltaggerade etwas durcheinander.Man kann das als Chaos sehen.Oder als Chance. Endlich mal mit dem Schlitten zur Arbeit fahren! Eine Viertelstunde zu spät am Termin? Nicht so schlimm,geht gerade fast allen so. So gesehen gibt es wenig Gründe, sich über die mächtige weisse Pracht aufzuregen. Und dennoch gibt es Menschen, die es gerade richtig schwer haben.

Für ältere Personen, die nicht mehr gut zu Fuss sind, für Menschen im Rollstuhl undMenschen mit Sehbehinderung ist jeder Ausflug vor die Haustüre und in den tiefen Winter eine Herausforderung. Manchmal sogar eine Mutprobe. Virgil Desax aus Abtwil liebt Schnee und dennoch geht er nur raus, wenn nötig. «Mir fehlt die Orientierung. Randsteine, Mauern, Bänke, all diese Anhaltspunkte sind unter dem Schnee begraben»,sagt der 33-jährige Blinde.

Sein Blindenstock bleibt im Schnee stecken, Unebenheiten spürt er damit kaum noch, auch um die Blindenampel an Kreuzungen türmt sich oft Schnee.Auf dem Weg an seinen Arbeitsplatz in der Stadt hat er gestern deshalb dreimal Hilfe angenommen. Er, der sonst am liebsten selbstständig unterwegs ist. Ein Winterspaziergang nur so zum Spass? «Definitiv nicht», sagt Desax. Wohl ist ihm erst wieder,wenn die Trottoirs frei sind.

Der Schnee schwächt Kontraste ab

Schnee blendet, auch Menschen mit Sehbehinderung. Sie schützen sich mit Brille und Schiebermütze dagegen, dennoch bleiben die Kontraste, an denen sie sich sonst orientieren können,schwach. «Wenn alles nur noch hell und weiss ist, fällt dieses Hilfsmittel weg», sagt Nina Hug vom Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen(SZBlind) mit Sitz in St. Gallen. Blinde Menschen benutzen meist dieselben Wege. Sie haben sie mit einem Fachmann trainiert, finden so alleine durch den Alltag. «Sind diese Wege mit Schnee versperrt, fühlen sich blinde Menschen hilflos»,sagt Hug. Hilfe holen, in Zeiten von Corona – nicht so einfach wie sonst. «Natürlich wird der Mindestabstand nicht eingehalten, wenn man jemanden am Arm führt. Mit Maske darf man sehbehinderten Menschen aber helfen», sagt Hug. Der SZBlind gibt Menschen mit Sehbehinderung für schneereiche Tage Tipps, die auch an ältere Personen gerichtet sind: gute Schuhe anziehen, sie mit Spezialsohlen ausrüsten, nur raus, wenn nötig.Von der Stadt wünscht sich der SZBlind, dass sie Trottoirs so rasch wie möglich freiräumen lässt, auch die Leitlinien. Blinde Menschen folgen ihnen mit dem Stock. Immerhin ein Gutes habe der Schnee auch für Menschen mit Sehbehinderung, sagt Hug:«Man kann ihn nicht nur sehen,sondern auch spüren.» Wie weich er in den Händen liegt,wie sanft die Flocken das Gesicht streifen.

Zugeschaufelte Rollstuhlparkplätze

«Man muss improvisieren»,antwortet Roland Dürr auf die Frage, wie er durch die Schneestadt St. Gallen kommt. Er sitzt nach einem Badeunfall seit 33 Jahren im Rollstuhl, seit Anfang Jahr leitet er die Geschäftsstelle Pro Infirmis St. Gallen-Appenzell. Mit dem öffentlichen Verkehr sei es momentan schwierig.Menschen im Rollstuhl würden es nicht einmal zur Bushaltestelle schaffen, auf dem Schnee sofort spulen. «Spikes gibt es für uns leider noch nicht.»

Dürr nimmt das Auto, um von Amriswil nach St. Gallen zu gelangen. Unangenehm nur,wenn der Rollstuhlparkplatz mit Schnee zugeschaufelt ist. Erhabe sich gewagt, das Auto vor dem Ladenfenster einer Apotheke abzustellen. «Verständlicherweise lag ein Reklamationszettel unter dem Scheibenwischer, als ich zurückgekehrt bin.Immerhin war der Inhaber besänftigt, als er gesehen hat, dass
ich auf den Rollstuhl angewiesen bin.» Wintertage wie diese verlangen viel von ihm ab. «Ich muss noch mehr Zeit einberechnen, noch besser planen.»

Der Winterdienst sei arg gefordert. Er habe Verständnis dafür, dass bei diesen Mengen auch mal Schnee liegen bleibe.«Aber nur ein paar Tage lang.Dann dürfen Rollstuhlparkplätze nicht mehr als Schneelager dienen. Und auch die Zugänge zu ihnen müssen frei sein.» Warum parkiert er nicht in einer Tiefgarage? Zu lange Wege, sagt Dürr. Er freue sich über den Schnee, verliere die Lust daran aber auch rasch wieder. «Weil er mein Leben zusätzlich verkompliziert.»

Die Natur ist für Ältere nicht mehr zugänglich

In den vergangenen Tagen waren Beweglichkeit, Geschick,fast schon Akrobatik gefragt. An manchen Orten gelangte man nur mit einem Spagatsprung über eine Schneemauer auf den Fussgängerstreifen, andernorts schaffte man es nur so aus dem Bus. Nichts für ältere Personen,die nicht mehr so trittsicher sind. «Wir raten unseren Klienten, daheim zu bleiben, jetzt erst recht», sagt Michael Zellweger,Leiter der Spitex St. Gallen. Seit Monaten seien sie isoliert wegen Covid-19. Auf einem kurzen Spaziergang frische Luft schnappen, immerhin das konnten sie noch tun ohne Risiko. «Die Natur, das einzige, was sie noch hatten, haben sie nun auch nicht mehr», sagt Zellweger.

Deshalb setzen er und sein Team alles daran, es trotzdem zu den Pensionären zu schaffen.Egal, wie viele vereiste Strassen und Schneehaufen zwischen ihnen liegen. Nette Worte sind nun fast Medizin. Der Winter, er verzaubert die einen. Die anderen sperrt er ein.


Die Spitex rät ihren Klientinnen und Klienten von Spaziergängen ab. Bild: Arthur Gamsa