«Die Dynamik in der Behindertenpolitik erachte ich als sehr mittelprächtig»

(Curaviva / deutsche Ausgabe)

CVP-Nationalrat Christian Lohr* ist massgeblich daran beteiligt, dass es auf Bundesebene eine eigentliche Behindertenpolitik gibt. Ziel der nächsten Legislatur müsse sein, die Selbstbestimmung zu fördern – beim Wohnen, beim Arbeiten und in der Lebensgestaltung.
Interview Elisabeth Seifert*

Christian Lohr,57,sitzt seit 2011 für die CVP Thurgau im Nationalrat. Er ist zudem als Dozent an verschiedenen Fachhochschulen tätig. Christian Lohr lebt von Geburt an mit einer Behinderung: Diese geht zurück auf ein Medikament,das seine Mutter während der Schwangerschaft gegen Keuchhusten erhielt. Es enthielt Thalidomid, denselben Wirkstoff wie das Beruhigungs- und Schlafmittel Contergan,das bei Föten zu Fehlbildungen führte. Christian Lohr ist ledig und wohnt in Kreuzlingen.

Herr Lohr, Sie sitzen seit 2011 im Nationalrat und engagieren sich immer auch für die Interessen von Menschen mit Behinderung. Stossen Sie mit Ihren Anliegen auf offene Ohren?

Christian Lohr: Mit Überzeugung kann ich sagen: Ja, das ist so. Das hat zum einen mit meiner persönlichen Lebenssituation zu tun. Ich werde als Experte wahrgenommen, der aufgrund seiner eigenen Erfahrung weiss, wovon er spricht. Zum anderen hat es auch mit der Art und Weise zu tun, wie ich dieses politische Thema behandle. Für mich ist es sehr wichtig, dass inder Diskussion über Themen, die Menschen mit Beeinträchtigung betreffen, vor allem sachliche Argumente im Vordergrund stehen und nicht so sehr die emotionalen Aspekte. Bei aller Offenheit, die ich gegenüber diesen Themen wahrnehme, gibtes natürlich noch viel zu tun, besonders, was die Haltung gegenüber Menschen mit Beeinträchtigung betrifft.

Was kritisieren Sie an dieser Haltung?

Die Unterstützung von Menschen mit Behinderung war lange Jahre von einer fürsorgenden Haltung geprägt. Diese Haltung liegt in der Geschichte begründet und hat zum heutigen hohen Standard in Betreuung und Begleitung von Menschen mit Beeinträchtigung beigetragen. Jetzt brauchen wir aber eine neue Haltung. Ganz wichtig ist, dass man auch im Parlament nicht über die Menschen mit Behinderungen redet, sondern mit ihnen.

Sie sprechen damit eineForderung der UN-Behinder-tenrechtskonvention an…

Mit der UN-BRK haben wir einverstärktes Mittel in der Hand, um die Integration oder die Inklusion von Menschen mit Behinderung zu forcieren. Eines der zentralen Postulate ist die Selbstbestimmung. Daraus leitet sich jetzt nicht nur einfach ab, dass mehr gemacht werden soll, um Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Vielmehr verbinde ich damit auch die Aufforderung an die Betroffenen selbst, sich stärker einzubringen. Ich erwarte zudem von den Behindertenorganisationen und den Verbänden, dass sie Menschen mit Behinderung aktiv in ihre Arbeit einbinden.

Welche politischen Schwerpunkte haben Sie in den letztenLegislaturen in Ihrer politischen Arbeit im Bereich Behinderung gesetzt?

Die Ratifizierung der UN-BRK durch die Schweiz war für mich
der Anlass, in einem Postulat einen Bericht des Bundesrats zu einer kohärenten Behindertenpolitik zu fordern. Oder anders ausgedrückt: Es ging und geht mir darum, überhaupt eine Behindertenpolitik auf Bundesebene zu installieren. Der Bericht liegt seit Mai 2018 vor. Zuvor gab es keine spür- und erkennbaren Politik für Menschen mit Beeinträchtigungen. Langsam werden erste Konturen sichtbar. Aber man tut sich sehr schwer damit.

Was ist eine «kohärente Behindertenpolitik»?

Behindertenpolitik ist nicht einfach mit IV-Politik gleichzusetzen. Behindertenpolitik muss darüber hinaus gehen und etwa eine Arbeitsmarktpolitik miteinschliessen. Zum einen geht esum eine verbesserte Integration in den ersten Arbeitsmarkt, aber auch um eine breitere Vielfalt im zweiten Arbeitsmarkt. Damit das realisiert werden kann, benötigen wir eine Bildungspolitik:Menschen mit Beeinträchtigung haben dann die grössten Chancen, wenn sie sich aus- und weiterbilden können. Weiter müssen geeignete Assistenzmodelle eingeführt werden, um selbstbestimmte Wohnformen zu ermöglichen.

Hat das Fehlen einer nationalen Behindertenpolitik nicht auch damit zu tun, dass in etlichen Belangen die Kantone die Hauptverantwortung tragen?

Ich beobachte immer wieder, dass sich Bund,Kantone und Gemeinden die Fragen rund umdie Unterstützung von Menschen mit Behinderung hin- und herschieben. Das empfindeich als unwürdig. Die fragwürdige Folge ist, dass viele Behördenund Verwaltungen nicht gewillt sind, sich aktiv an entsprechenden Projekten zu beteiligen. Der Bund kann nicht einfach den Kantonen die Verantwortung zuschieben, ohne selbst eineklare Vorstellung von einer Behindertenpolitik zu haben. Mein Anliegen war und ist es, der Behindertenpolitik in doppeltem Sinn ein Gesicht zu geben, inhaltlich und mit meiner Person.Heute kann man das Thema Behindertenpolitik auch im Bundesparlament nicht mehr auf ein Nebengleis stellen.

Müssen wir nicht tatsächlich darauf achten, dass die Kostennicht aus dem Ruder laufen?

Es geht nicht um einen Ausbau des Sozialstaates. Es geht vielmehr darum, dass wir mit der gleichen Innovationskraft wie in der Wirtschaft auch im Bereich der Unterstützung von Menschen mit Behinderung neue Ideen und Modelle entwickeln.Mehr Selbstbestimmung von Menschen wird nicht zu höheren Kosten führen. Im Gegenteil: Verschiedene Studien zu selbstbestimmten Wohnformen zeigen zum Beispiel, dass die zielund bedarfsgerechte Unterstützung mit Assistenzen gerade auch volkswirtschaftlich Sinn macht.

Wo steht die Behindertenpolitik?

Der Bundesrat hat in seinem Bericht in vielen Punkten definiert oder zumindest angetönt, wohin die Reise gehen muss. Jetzt aber müssen diese Anliegen konkretisiert und umgesetzt werden.Die Dynamik in der Behindertenpolitik erachte ich zurzeit als sehr mittelprächtig. Wir brauchen eine Art Aktionsplan. Dieser darf dann aber nicht eine Zusammenstellung der guten Absichts ein, sondern muss mit einem klaren Zeitplan verbunden sein.

«Die Unterstützungmit Assistenzen macht auch volkswirtschaftlich Sinn.»

Welches sind die Eckwerte eines solchen Aktionsplans?

Ein Ziel der nächsten vier Jahre muss sein, die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung zu fördern, in der Lebensgestaltung, beim Wohnen und beim Arbeiten. Das geht nur mit entsprechenden Assistenzmodellen. Dafür müssen wir die Rahmenbedingungen definieren. Für mich ist es dabei eine Notwendigkeit, dass auch Menschen mit schweren Beeinträchtigungen dank Assistenzen selbstbestimmt leben und arbeiten können. Gesellschaftlich müsste für diese Forderungen viel mehr Unterstützung kommen. Wir benötigen auch genügend qualifizierte Personen, die solche Assistenzaufgaben übernehmen können. In Verbindung mit den Assistenzen wird das Hauptthema in den kommenden Jahren die Befähigung respektive das Empowerment von Menschen mit Behinderung sein.Für das selbstbestimmte Leben braucht es Befähigung.

Was verstehen Sie unter der Befähigung und dem Empower-ment von Menschen mit Beeinträchtigung?

Wir müssen Energie und auch finanzielle Mittel in die Aus- und Weiterbildung stecken. Dabei gilt es, den Fokus auf die Fähigkeiten der Menschen mit Behinderung zu richten und sie nicht auf ihre Defizite zu reduzieren. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Gesellschaft und die Politik etwas Angst davor haben, Menschen mit Beeinträchtigung zu einem selbstbestimmten Leben zu befähigen. Wir befürchtenden Kontrollverlust. Dies Furcht äussert sich dann in Bedenken darüber, ob Menschen mit Beeinträchtigung überhaupt in der Lage sind, zu wissen, was für sie gut ist. Gerade bei Menschen mit psychischen oder geistigen Beeinträchtigungen.

Wie begegnen Sie solchen Befürchtungen?

Es geht mir nicht darum, der Realität auszuweichen. Mir ist es wichtig, dass man den Menschen in ihrer jeweiligen Situation gerecht wird. Egal, welcher Art eine Beeinträchtigung sein mag,die Betroffenen verfügen immer auch über bestimmte Kompetenzen und Fähigkeiten, an denen man anknüpfen kann.

Besonders schwer tut sich die Schweiz mit der Integration von Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt: Was halten Sie von Quoten?

Mit Forderungen, die Druck auf die Unternehmen ausüben, bin ich sehr zurückhaltend. Ob das jetzt Quoten sind oder auch ein Kündigungsschutz. Ich möchte die Unternehmen vielmehr motivieren, Menschen mit Behinderung eine Chance zu geben. Sie müssen eine Perspektive in ihrem Leben bekommen, an der Gesellschaft teilhaben und diese mitgestalten können.

Was wird Sie persönlich im Bereich der Behindertenpolitik in der nächsten Legislatur besonders beschäftigen?

Ich werde immer wieder Gespräche mit dem Departementsvorsteher des EDI führen und erlaube mir, den Prozess aktiv zu begleiten. Neben der eigentlichen Politik hier im Bundeshaus werde ich weiterhin das Gespräch mit öffentlichen und privaten Unternehmen suchen, um Sensibilisierungsarbeit zu leisten.Wichtig ist mir zudem der Austausch mit Selbstvertretern, also den Betroffenen selbst. Eine wichtige Aufgabe sehe ich darin, die verschiedenen Selbstvertreter-Gruppen zusammenzubringen.Mein erklärtes Ziel war und ist es zudem, dass wir nicht bei der Behindertenpolitik stehen bleiben, sondern diese vielmehr in eine Gesellschaftspolitik integrieren.

Sie skizzieren damit die Idee der Inklusion?

Ja, natürlich. Die Behindertenpolitik soll ein Teil der Gesellschaftspolitik sein. Das müssen wir in den nächsten Legislaturperioden in Angriff nehmen. Es geht darum, unterschiedliche Arten von Menschen in den politischen Gestaltungsprozess mit einzubeziehen, Strukturen zu schaffen, die allen Teilhabe ermöglichen.

Wie nehmen Sie die politische Arbeit von Behindertenorganisationen und der Verbände Curaviva Schweiz und Insos Schweiz wahr?

All diese Organisationen und Verbände bemühen sich. Curaviva Schweiz, Insos Schweiz und der VAHS zum Beispiel haben mit einem nationalen Aktionsplan eine gute Richtung vorgegeben. Jetzt muss es aber darum gehen, die kommunizierten Massnahmen auch umzusetzen. Ich würde mir zudem wünschen, dass sie in der Politik spürbarer werden. Die Organisationen und Verbände sind stark mit eigenen Themen, spezifischen Fragen im sozialpolitischen Bereich beschäftigt. Damit macht man aber keine Behindertenpolitik. Es braucht eine Vision und echten Gestaltungswillen.

Christian Lohr im Bundeshaus, seinem Wirkungsort: «Ich verstehe mich als Gesellschaftspolitiker, nicht als Behindertenpolitiker.Wir müssen Strukturen schaffen, die allen Menschen Teilhabe ermöglichen.»Foto: Béatrice Devènes

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