Die IV bleibt auf ihren Schulden sitzen

(Neue Zürcher Zeitung)

Der Bund präsentiert neue Zahlen zu den Sozialwerken-die AHV schreibt trotz Finanzspritze schon wieder ein Defizit


Unsichere Aussichten für die AHV. Spätestens ab dem Jahr 2024 drohen grosse, rasch wachsende Fehlbeträge. ADA AN BAER / NZZ

 

Die Sozialversicherungen verlieren in der Krise kurzfristig 4 bis 5 Milliarden Franken.Der Druck wächst. Im Herbst beginnt endlich die Debatte um die neue AHV-Reform.

FABIAN SCHÄFER, BERN

4 bis 5 Milliarden Franken: So gross ist gemäss einer ersten Schätzung der Schaden, den die Corona-Krise bei den Sozialversicherungen des Bundes verursacht. Die Zahl umfasst die AHV, die Invalidenversicherung (IV) sowie die EO, die bei Mutterschaft und Militärdienst zum Zug kommt. Bei ihnen führt die Krise insbesondere zu einem Rückgang der Einnahmen aus den Lohnbeiträgen. Doch schon ab 2025 sollen diese Erträge wieder das Niveau erreichen, das sie ohne Krise gehabt hätten. Dies geht aus den neuen Finanzperspektiven hervor, die das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) am Donnerstag veröffentlicht hat. Das Fazit ist verhalten zuversichtlich:Die Sozialwerke könnten die temporären Effekte der Krise «gut verkraften». Das BSV erwartet, dass die Pandemie mittelfristig nur geringfügige Folgen hat.

Im roten Bereich

Um das grösste Sozialwerk, die AHV,stand es schon vor der Corona-Krise schlecht. Nun präsentiert sich die Zukunft noch düsterer. Die bittere Erkenntnis: Die Finanzspritze, die das Stimmvolk 2019 mit dem Steuer-AHV-Deal beschlossen hat, reicht nicht weit. Zwar bezahlen nun alle Angestellten höhere Lohnbeiträge, und auch der Bundesbeitrag wurde erhöht. Dennoch schreibt die AHV bereits 2020 ein weiteres Defizit.Wenn man die erwarteten Einbussen an den Kapitalmärkten mit einrechnet, soll der Verlust 865 Millionen Franken betragen. Die entscheidende Grösse, das Umlageergebnis, bleibt auch in den nächsten Jahren im roten Bereich. Nur zusammen mit den schwierig vorhersehbaren Kapitalerträgen könnte die AHV allenfalls bis 2024 noch knapp schwarze Zahlen schreiben. Danach drohen grosse, rasch wachsende Fehlbeträge. 2030 ist ein Defizit von 3,6 Milliarden Franken zu erwarten. Insgesamt bestätigen die Zahlen,dass eine Reform dringend notwendig ist. Wenn die Politik nicht handelt, muss die AHV von der Substanz zehren. Bis ins Jahr 2030 würde ihr Vermögen in diesem Fall von derzeit 100 auf 58 Prozent einer Jahresausgabe schrumpfen.

Die AHV leidet auch darunter, dass die IV bei ihr immer noch tief in der Kreide steht. Sie ist nach wie vor mit 10,3 Milliarden Franken beim AHV-Fonds verschuldet. Als das Volk 2009 eine befristete Steuererhöhung für die IV guthiess, wurde ihm versprochen, das Parlament sorge danach für den Schuldenabbau. Später hat der neue Sozialminister Alain Berset (sp.) die Sache immer weiter aufgeschoben. Vor drei Jahren hiess es, die IV sei 2030 schuldenfrei. Später sprach Berset von 2032. Davon ist nun keine Rede mehr: Laut den neuen Zahlen hat die IV 2030 immer noch Schulden von 77 Milliarden Franken. Wie es danach weitergeht, ist unklar. Das BSV erstellt wegen der grossen Ungewissheiten mit der Corona-Krise keine Berechnungen über das Jahr 2030 hinaus.

Neuer Vorschlag

Politisch steht aber die AHV im Fokus.Nachdem die letzten Reformversuche gescheitert sind, liegt nun ein neuer Vorschlag des Bundesrats im Parlament(siehe Box). Als Erstes ist der Ständerat am Zug, dessen Sozialkommission bisher aber keine grosse Eile an den Tag legt.Sie will nach den Ferien erst Anhörungen durchführen. Dies führte zu Bedenken,der Ständerat werde die dringende Vorlage erst im Dezember behandeln. Doch nun sagt Kommissionspräsident Paul Rechsteiner (sp.), die AHV-Reform sei provisorisch für die Session im September angemeldet. Macht der Nationalrat danach vorwärts, sollte es möglich sein,die Beratungen 2021 zu beenden. Findet die Volksabstimmung im selben Jahr statt,könnte die Reform 2022 in Kraft treten.

Umstritten ist, ob das Parlament parallel dazu bereits eine weitere Vorlage aufgleisen soll, die eine Erhöhung des Rentenalters über 65 Jahre hinaus umfasst.Mittlerweile sprechen sich auch CVP-Sozialpolitiker dafür aus, womit er mehrheitsfähig werden könnte. In der aktuellen Vorlage aber ist Rentenalter 66 oder 67 wohl ebenso wenig ein Thema wie eine generelle Rentenerhöhung. Somit ist auch keine Neuauflage des 70-Franken-Zuschlags zu erwarten, den das Volk 2017 refüsiert hat.

Der Bundesrat will Frühpensionierungen attraktiver machen

fab.Seit 1997 ist keine AHV-Reformmehr gelungen. Der Plan für den nächsten Anlauf liegt auf dem Tisch, der Bundesrat hat die Vorlage «AHV 21» getauft. Allerdings ist längst klar, dass eine Umsetzung auf das Jahr 2021 nicht mehr gelingt. Auch eine Einführung ab 2022 ist nur noch möglich, falls sich das Parlament nach den Sommerferien sputet.

  • Das gewichtigste Element ist die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der AHV. Der Bundesrat will sie um 0,7 Punkte erhöhen, der Normalsatz der Steuer soll von 7,7 auf 8,4 Prozent steigen. Dies entspricht einer Steuererhöhung von 9 Prozent. Die Mehrbelastung der Konsumenten würde sich auf 2,5 Milliarden Franken jährlich belaufen.

  • Politisch brisanter ist wohl die Erhöhung des Rentenalters der Frauen von 64 auf 65 Jahre. Sie soll etappiert stattfinden, vier Jahre nach Inkrafttreten würde für alle Frauen Rentenalter 65 gelten. Dadurch spart die AHV 1,4 Milliarden Franken im Jahr. Obwohl es sich mit Blick auf die Männer um eine Angleichung handelt, sieht der Bundesrat «Ausgleichsmassnahmen» für die Frauen vor. Die ersten neun betroffenen Jahrgänge erhielten Rentenzuschläge oder einen «Rabatt» beim Vorbezug. Dies kostet die AHV vorübergehend bis zu 0,7 Milliarden Franken im Jahr.

  • Der Bundesrat plant neue Regeln für jene, welche die AHV vor oder nach 65 beziehen. Neu wäre der Vorbezug für alle schon ab 62 möglich. Erstaunlich,aber wahr: Frühpensionierungen sollen finanziell interessanter werden. Wer vor 65 in Pension geht, müsste weiterhin eine Kürzung der Rente hinnehmen, aber diese fiele milder aus als heute. ImAlter 63 beträgt die Kürzung heute 13,6 Prozent, neu wären es noch 77 Prozent.Dies lässt sich rechnerisch wegen der gestiegenen Lebenserwartung begründen, politisch ist die Idee aber umstritten. Damit würde ein anachronistischer Anreiz gesetzt, den Arbeitsmarkt früher zu verlassen. Mit derselben mathematischen Logik würden die Rentenzuschläge für jene, die über 65 hinaus arbeiten, kleiner ausfallen als heute.

    Weil die Sätze der Mehrwertsteuer in der Verfassung festgelegt sind, wird es zu diesem Teil der Vorlage zwingend eine Abstimmung geben. Gegen den anderen Teil ist wegen des Frauen-Rentenalters mit einem Referendum von links zu rechnen. Zudem kann das Parlament die Reform so gestalten, dass sie nur in Kraft tritt,wenn beide Teile eine Mehrheit finden