Die IV ist nicht über den Berg

(Neue Zürcher Zeitung)

Das Sozialwerk hätte 2017 ohne Zusatzgelder tiefrote Zahlen geschrieben – die Prognosen zum Schuldenabbau waren zu optimistisch.

TOBIAS GAFAFER

Die Entschuldung der IV hat sich wiederholt verzögert. Dennoch sieht der Bund die Sanierung auf Kurs. Bürgerliche Sozialpolitiker werfen Innenminister Alain Berset Schönfärberei vor. Um die Invalidenversicherung ist es ruhiger geworden. Die 2009 vom Volk angenommene Finanzspritze von jährlich über einer Milliarde Franken hat dem hochverschuldeten Sozialwerk Luft verschafft. Bundesrat Alain Berset sieht die Finanzen im Lot. Auf den ersten Blick ist dies tatsächlich der Fall: 2017 erzielte die IV laut dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) ein positives Umlageergebnis von 797 Millionen Franken. Zudem konnte sie ihre Schulden um rund eine Milliarde abbauen. Auf den zweiten Blick aber zeigt sich: Das positive Ergebnis kam lediglich zustande, weil der Bund nochmals Geld in die Sozialversicherung pumpte und die Schuldzinsen übernahm. Sonst hätte ein strukturelles Defizit von rund 380 Millionen Franken resultiert. Wie die IV dieses im laufenden und im nächsten Jahr beseitigen soll, bleibt fraglich. Zumal die Zusatzfinanzierung über die um 0,4 Prozentpunkte erhöhte Mehrwertsteuer 2017 ausgelaufen ist.

Vor allem aber schiebt das marode Sozialwerk immer noch einen Schuldenberg von 10 Milliarden Franken bei der AHV vor sich her. Der Bundesrat wollte diesen ursprünglich bis 2024 abbauen, als er 2005 die 5. IV-Revision und die Zusatzfinanzierung verabschiedete. Die Annahme beruhte auf einer unbefristeten Mehrwertsteuererhöhung um 0,8 Prozentpunkte, was dem Parlament zu weit ging. Seither wurde das Ziel mehrfach hinausgeschoben. Mit der IV-Revision 6b, die auch Sparmassnahmen umfasste, plante die Regierung eine Entschuldung bis zum Jahr 2025. Doch der Nationalrat versenkte das Massnahmenpaket unter der Ägide von Alain Berset. Der Sozialdemokrat erklärte die Kürzungen, die noch sein Vorgänger Didier Burkhalter (fdp.) aufgegleist hatte, kurzerhand für überflüssig.

In den Unterlagen zur Weiterentwicklung der IV, die im Parlament hängig ist, hiess es dann, die Schulden würden bis im Jahr 2028 getilgt. Auch dies erwies sich als zu optimistisch. Gemäss den aktuellsten Projektionen soll das Sozialwerk nun bis im Jahr 2031 schuldenfrei sein. Die Finanzperspektiven des BSV gehen jedoch davon aus, dass im Durchschnitt jährlich netto 60 000 Personen zuziehen (Einwanderer minus Auswanderer). Für die IV war es denn auch eine schlechte Nachricht, dass 2017 weniger Zuwanderer als erwartet kamen. Auch 2018 bestätigte sich der Trend bis anhin. Beobachter rechnen nicht mit einer raschen Wende.

Sparmassnahmen wieder Thema

Sozialpolitiker sind denn auch besorgt. Der Abbau der Schulden der Sozialversicherung habe sich verlangsamt, sagt Nationalrat Bruno Pezzatti (fdp., Zug). «Alain Berset hat die Tendenz, die Entwicklung schönzureden.» Die zu optimistischen Prognosen mahnten zur Vorsicht. Vor diesem Hintergrund wollen die Bürgerlichen die Sparmassnahmen, die mit der gescheiterten Reform 6b geplant waren, bei der Weiterentwicklung der IV wieder aufnehmen. Auch der Arbeitgeberverband macht Druck: Indem die vollständige Tilgung der Schulden schleichend aufgeschoben werde, vergrössere sich das Problem der AHV, sagt Fr6d6ric Pittet, stellvertretender Leiter Sozial politik. In der Tat wächst die Finanzirungslücke der ersten Säule bereits wegen der demografischen Entwicklung und mangels Reformen. «Der Schuldenabbau bei der IV muss zwingend bis spätestens 2030 vollzogen sein, wie es auch dem Volk versprochen worden ist», sagt Pittet. Ohne die Entlastungsmassnahmen bei den Kinderrenten und Reisekosten gehe dies nicht.

Das BSV spielt den Ball zurück ans Parlament. Dieses habe die vorgeschlagenen Sparmassnahmen abgelehnt und müsse entscheiden, ob es sie wieder aufnehmen wolle, sagt Sprecher Rolf Camenzind. Zwar könnten diverse Beschlüsse, darunter die Aufnahme neuer Geburtsgebrechen und das Stabilisierungsprogramm, die Entschuldung leicht verzögern. Die Sanierung der IV bleibe aber auf Kurs. Tatsächlich hat die Zahl der Neurentner nach dem «Spitzenjahr» 2003 dank einer Reihe von Reformen stark abgenommen – wenngleich sie in Zürich und anderswo jüngst wieder angestiegen ist. Auch das strukturelle Defizit, das 2011 eine Milliarde Franken betrug, ging in den vergangenen Jahren zumindest zurück. Zudem soll die Zahl der IV-Rentner mit der Weiterentwicklung sinken.

Laut dem BSV steigen die Einnahmen stärker als die Ausgaben, womit sich die IV in Zukunft aus eigener Kraft finanzieren könne. Die tiefere Nettomigration habe auf die Entschuldung nur einen geringen Einfluss. Setzt sich diese Entwicklung in den nächsten Jahren aber fort, wären die Folgen für alle umlagefinanzierten Sozialversicherungen gross, wie Alain Berset in einem Interview mit der NZZ sagte. Denn die IV ist stark über Lohnbeiträge finanziert.

Behindertenverbände warnen

Die Behindertenverbände argumentieren, man habe bei der IV bereits genug gespart – und warnen vor neuen Kürzungen. «Die Zitrone ist ausgepresst», sagt Marc Moser von Inclusion Handicap. Der Zugang zu den Leistungen sei in den letzten Jahren stark erschwert worden, die Praxis habe sich massiv verschärft. Es gebe keinen Grund zu der Annahme, dass die Sanierung nicht auf gutem Weg sei.

Ob dies auch das Parlament so sieht, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Die nationalrätliche Sozialkommission entscheidet, ob sie Sparvorschläge in die Weiterentwicklung der IV aufnehmen will. Grundsätzlich bestreiten deren Stossrichtung trotz Differenzen weder die Behindertenverbände noch die Bürgerlichen und die Arbeitgeber. Die Vorlage soll die Arbeitsintegration von jungen Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen und von Psychischkranken verbessern. Doch die Aufnahme von Sparmassnahmen könnte das Risiko erhöhen, dass im Parlament erneut die ganze Reform scheitert.


Hochverschuldete IV

 


Nicht nur wer im Rollstuhl sitzt, ist handicapiert, sondern auch die IV ist es.
ADRIAN BAER / NZZ