Die lautlose Gefahr

(Basler Zeitung)

Verkehrsregeln Primarschulkinder sollen auf dem Trottoir Velo fahren dürfen. Das beantragt das Bundesamt für Strassen dem Bundesrat. Für Sehbehinderte und Blinde sind Fahrräder auf dem Gehsteig aber ein Unfallrisiko.


Das Trottoir ist für Sehbehinderte im Strassenverkehr wie eine sichere Insel.Foto. Urs Jandas

 

Dina Sambar

Der Basler Hy Tran ist blind. Der Strassenverkehr ist für ihn noch gefährlicher als für Sehende. Die Distanz von Autos, Lastwagen oder auch Trams kann er aufgrund des Motorenlärms einschätzen. Velos sind jedoch auch für ihn je nach Geräuschkulisse kaum hörbar. «Das Trottoir ist für viele Blinde und Sehbehin-derte die sichere Insel», sagt HyTran von der Sehbehinderten-hilfe Basel. Laut dem Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen (SZBLIND) ist das Trottoir für 377’000 Menschen mit einer Sehbehinderung in der Schweiz der wichtigste Bewegungskorridor im öffentlichen Raum: «Nur dank ihm können sie sich selbstständig und sicher fortbewegen.» Doch nun droht ihnen diese Sicherheit abhandenzukommen.

Geht es nach dem Bundesamt für Strassen (Astra), dürfen Kinder bis zu 12 Jahren bald mit demVelo auf dem Trottoir fahren. So sollen sie vor dem Strassenverkehr geschützt werden. Im Januar liess das Amt durchblicken,dass der Bundesrat noch dieses Jahr eine Altersbegrenzung von 10 oder 12 Jahren definieren werde. Bisher darf das Trottoir nur mit Kinder- oder Spielzeugvelos genutzt werden.

Verschiedene Interessen

Hy Tran ist Vater von zwei jungen Erwachsenen, kennt also beide Seiten der Medaille. Dass Eltern um die Sicherheit ihrer Kinder besorgt sind, verstehe er.Das sei auch bei ihm vor einigen Jahren so gewesen. Die Alterslimite von 12 Jahren findet er persönlich aber zu hoch: «Wenn ich von einem 6-Jährigen auf einem Kindervelo angefahren werde, ist das nicht so schlimm.Doch 12-Jährige fahren bereits auf Erwachsenenvelos und sind auch mit höherem Tempo unterwegs. Bei einem Zusammenstoss wäre die Verletzungsgefahr gross.» Da Fahrräder kaum hörbar sind, ist Ausweichen für Blinde und Sehbehinderte keine Option: «Die Velos sind eine lautlose Gefahr. Ich hoffe wirklich, dass den schwächeren Sehbehinderten nichts passiert.»

Die geplante Massnahme istfür Sehbehinderte laut dem SZBLIND auch gefährlich, weil den Kindern meist das Wissen fehle, was ein weisser Stock genau bedeute. Zudem seien Kinder weniger gut darin, die Bewegungen und das Reaktionsve-mögen der Fussgänger und ihre eigene Geschwindigkeit richtige inzuschätzen: «Ich erinnere mich noch gut. Als ich in diesem Alter war, wollte ich auf dem Velo so schnell wie möglich fahren. Man kann von Kindern nicht verlangen, dass sie wissen, wie man sich mit dem Velo auf dem Trottoir richtig verhält – zumal es dafür, ausser einem Verbot,auch gar keine Verkehrsregeln gibt», sagt Gerd Bingemann vom SZBLIND. Auch er spricht aus Erfahrung. Vor 52 Jahren wurde er sehbehindert, seit 15 Jahren ist er blind. Zudem hat er eine Hörbehinderung, bewegt sich auf den für ihn wichtigsten Routen jedoch immer noch selbstständig. Der Gedanke, dass bald mehr Velos auf den Trottoirs unterwegs sind, beunruhigt ihn. «Das Astra macht mit dieser Verlagerung des Schutzproblems von der Strasse auf das Trottoir eine hoch problematische Güterabwägung. Die Schwächsten auf der Strasse werden gegen die Schwächsten auf dem Trottoir ausgespielt»,sagt Bingemann und fügt an:«Natürlich müssen Kinder auf der Strasse geschützt werden -übrigens nicht nur Kinder, sondern auch alle Erwachsenen.»Mit der Velofahrerlaubnis für das Trottoir werde ein Loch aufgerissen, um ein anderes zu stopfen.

Kompromiss gefordert

Als Kompromiss schlägt der SZBLIND vor, Kinder bis 8 Jahre auf dem Trottoir fahren zu lassen. Zudem fordert der Zentralverein Massnahmen, die das Problem an den Wurzeln packen. Gemeinden und Städtesollen für mehr getrennte Velo-und Fussgängerinfrastruktur sorgen. Auch die Autofahrer seien mit Verhaltensregeln in die Pflicht zu nehmen.

Der Zentralverein für das Blindenwesen ist nicht der einzige Verband, der sich an der geplanten Regelung stört. Bei der Vernehmlassung haben sich beispielsweise der Verband Fussverkehr, Agile, der Dachverband der Behinderten, die BFU und viele Kantone kritisch zur geplanten Massnahme geäussert. Trotzdem hat das Astra dem Bundesrat offenbar beantragt, diese zu übernehmen. Der SZBLIND hofft trotzdem auf einen Bundesratsentscheid in ihrem Sinne.