«Ein konsequentes Aussortiertwerden»

(Der Bund)

Leben mit einer Behinderung

Christoph Keller spricht schonungslos offen über seinen Alltag im Rollstuhl.
Und der Schweizer Autor erklärt, was Behinderte mit Superhelden zu tun haben.


,,Schweizergehen oft tollpatschig mit Behinderten um“, sagt Christoph Keller über sein Leben mit einer körperlichen Behinderung.
Foto: Gien Ehrenzeller (Keystone)

 

Denise Jeitziner

In Ihrem neuen Buch «Jeder Krüppel ein Superheld» beschreiben Sie Ihren Alltag mit Passagen wie «zum Duschenund Kacken benutze ich einen Toilettenstuhl aus Polyurethan». Ist Provokation nötig, um Aufmerksamkeit zu erhalten?

Ja. Ich habe lange in den USA gelebt und hier in der Schweiz gemerkt, dass wir viel zu wenig über diese Dinge und die massive Diskriminierung sprechen. Und das, obwohl 20 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer mit einer Behinderung leben.

Wenn selbst Randgruppen wie Transgender viel Aufmerksamkeit für ihre Anliegen bekommen: Warum klappt das bei der grossen Masse von Menschen mit einer Behinderung nicht?

Wir Menschen mit einer Behinderung sind so etwas wie das Memento mori, ein Zeichen für die menschliche Gebrechlichkeit und Sterblichkeit. Darum verschliessen wir lieber die Augen vor allem, was damit zu tun hat. In den USA gab es bis vor wenigen Jahrzehnten in manchen Gliedstaaten noch das «Ugly Law», das Behinderten verbot,sich auf der Strasse zu zeigen.Aber wir müssen uns damit auseinandersetzen. Unsere Behinderung kann uns zwar niemand nehmen, wir können jedoch dafür kämpfen, dass Hindernisse abgebaut werden. Damit wäre übrigens allen geholfen. Es kann ja auch jeden jederzeit treffen,durch einen Unfall, eine Krankheit oder im Alter.

Sie vergleichen Krüppel mit Superhelden.Wie kommen Sie darauf?

Wenn man ein richtiger Krüppelist, muss man auch ein richtiger Superheld sein, sonst schafft manes kaum durch den Tag. Und schauen Sie sich einmal an, wie viele Comic-Superhelden eine Behinderung haben. Daredevil,Hawkeye oder Dr. Mid-Nite sind blind, Captain Marvel Jr. ist Paraplegiker, Iron Man hat einen Herzfehler. Aus diesen Defiziten ist eine Superkraft geworden. Das klingt klischeehaft, aber ich glaube wirklich, dass Schicksalsschläge einen stark machen können.

Bei den Superhelden nimmt man diese Defizite aber nicht wahr. Ist dies das Ziel?

Nein, genau das Gegenteil. Es geht um die Sichtbarkeit. Es gibt Leute, die mir sagen: Ich sehe gar nicht, dass du im Rollstuhl bist.Und ich denke: Hast du Tomaten auf den Augen? Ich finde, man soll darüber reden. Natürlich nicht ständig. Aber die Behinderungen sind nun mal da, es sind kleinere und grössere Unterbrüche im Alltag, und das nonstop.Das ist für mich wie eine Metapher für das ganze Leben.

Sie beschreiben im Buch haarsträubende Situationen aus New York. Ein Mann, der Ihnen «Krüppel» nachbrüllt, ein Kinoangestellter, der die Polizei rufen will, weil Sie sich im leeren Saal nicht auf den miserablen Rollstuhlplatz stellen möchten. Restaurantgäste, die Sie einzeln bitten müssen,beiseitezurücken. Passiert so etwas auch in der Schweiz?

Die Situation im Restaurant ist mir hier auch mehrfach passiert.Die Leute schauen mich an, wie ich den ersten Gast am Tisch frage, ob er mir bitte Platz machen könnte. Dem nächsten Gast kommt aber nicht in den Sinn, dass er auch Platz machen könnte. Ich muss ihn also separat bitten. Und den übernächsten auch. Was mir auch auffällt: Schweizer gehen oft tollpatschig mit Behinderten um. Wenn ich zum Beispiel ein Konzert besuchen möchte, muss ich immer zuerst nachfragen, ob es eine Rampe hat, wie viele Stufen da sind und so weiter. Da bekomme ich Antworten wie: Wir hatten auch schon solche wie Sie hier. Das bringt mein Blut in Wallung, denn das heisst ja noch nicht,dass ich tatsächlich reinkomme.Daher verlange ich meistens Fotos der Situation,was in der Regel nicht gut ankommt. Für diese Leute bin immer ich das Problem, nicht sie beziehungsweise das Gebäude.

Was löst das bei Ihnen aus?

Das kommt auf die Stimmung an. Wenn ich militant gestimmt bin, schreibe ich einen Artikel darüber, manchmal will ich jedoch einfach nur ein Konzert geniessen und kein Aktivist sein. Durch das Buch habe ich nun aber solche Erlebnisse verarbeitet. Zum Beispiel, wie erniedrigend das Fliegen für mich ist. Ich darf nicht mit meinem eigenen Rollstuhl ins Flugzeug, sondern werde auf ein klappriges Teil gehievt und an meinen Platz gebracht, wo ich dann bis zum Ende des Fluges ausharren muss,inklusive Blasenkontrolle. Wenn Nichtbehinderte das hören, sagen sie, oh, hoppla, scheisse. Ich hoffe, dass die Leser sich Gedanken machen und sich vielleicht etwas ändert.

Glauben Sie, dass die richtigen Leute das Buch lesen oder nur jene, die sowieso schon sensibilisiert sind?

Ich wage zu behaupten, dass dieses Buch querbeet gelesen wird.

Was ist mit den Kampagnen wie der neuen von Pro Infirmis?
Können diese tatsächlich nachhaltig für die Anliegen von Menschen mit Behinderung sensibilisieren?

Ich weiss es nicht. Ich melde mich ja auch seit 25 Jahren immer wieder zu Wort und frage mich, ob das etwas bringt. Oder dass Sie nun einen Artikel darüber schreiben und dann erst im nächsten Jahr wieder einen, weil das Behindertenthema nun ja abgehandelt worden ist. Aber ich denke schon, dass mit jeder Kampagne und jedem Artikel etwas erreicht wird.

Machen es die jungen Menschen besser, die nun vermehrt ihre körperlichen oder geistigen Behinderungen wie eine Beinprothese oder Trisomie 21 auf Instagram zelebrieren?

Social Media funktionieren jaüber Neid. Man muss sich also als Behinderter so präsentieren,dass alle neidisch werden und auch behindert sein wollen. Nein,im Ernst. Mich freut es, dass da scheinbar eine neue Generation heranwächst, die sagt: Jetzt ist Schluss mit Verstecken, jetzt zeige ich, wer ich bin. Die auch ein tolles Foto von sich vor einem Daiquiri mit Cocktail-Schirmchen posten und damit angeben.Warum denn nicht?

Was ist mit Mode firmen,die behinderte Models über den Laufsteg schicken?
Ist das nicht heuchlerisch?

Wenn man das nur als einmalige Aktion für die eigene Publicity tut, finde ich das nicht nur heuchlerisch, sondern zynisch. Wenn die Firmen es wirklich ernst nehmen, müssten sie es durchziehen und den Behinderten einen Vertrag geben. So wie bei Peter Dinklage von «Game of Thrones». Der ist ein Spitzenschauspieler und halt kleinwüchsig. Allein durch seine Präsenz hat er das Anderssein normalisiert und Türen geöffnet.

Was sind für Sie die grössten Hürden, abgesehen von Bordsteinen, Stufen oder Schlaglöchern?

Es ist die strukturelle Diskriminierung, die viel tiefer geht. Wir haben in der Schweiz zwar für alles irgendwo eine Stelle, aber wir sind allgemein nicht wirklich integriert. Menschen mit Behinderungen kommen nicht wirklich an den Futtertrog, selbst Behindertenorganisationen oder die IV werden mehrheitlich von Nichtbehinderten geführt. Im Literaturbetrieb ist das nicht anders. Es gibt kaum erfolgreich eAutorinnen und Autoren mit Behinderung. Ich habe dieses Jahrden alemannischen Literaturpreis bekommen, aber das isteine grosse Ausnahme.

Wieso denn? Warum ist es für Sie im Rollstuhl schwieriger alsfür einen Autor, der auf einem gewöhnlichen Stuhl sitzt?

Wegen der eingeschränkten Mobilität. Ich kann nicht ständig überall präsent sein, weil ich nicht zu Literaturveranstaltungen eingeladen werde, wenn der Ort nicht barrierefrei ist. Wenn man nicht eingeladen wird, ist man nicht dabei, kommt nichtins nächste Gremium, wird nicht für den nächsten Preis berücksichtigt. Es ist ein konsequentes Aussortiertwerden. Niemandkann etwas dafür. Und gleichzeitig kann jeder etwas dafür.

Christoph Keller
Der 57-Jährige wurde in St. Gallen geboren und ist Autor zahlreicher preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays. Zuletzt ist im Limmat-Verlag sein lesenswertes Buch «Jeder Krüppel ein Superheld» erschienen. Keller hat seit seiner Kindheit spinale Muskelatrophie, eine unheilbare, progressive neuromuskuläre Erkrankung.

Kinderfoto-Challenge

Wenn Erwachsene sich freiwillig in regenbogenfarbene Schwimmflügel zwängen oder in einen selbst gestrickten Pullover im Siebziger-jahre-Chic und seltsam posieren,dann kann es sich fast nur um eines handeln: um die Kinderfoto-Challenge – eine der populärsten in den sozialen Medien. Nun hat die Pro-Infirmis das Internet-Phänomen auf ihre neuste nationale Plakatkampagne geholt. Mit der Besonderheit, dass auf den köstlichen Vorher-nachher-Fotos ausschliesslich Menschen mit einer Behinderung zu sehen sind. Bei Instagram und Facebook läuft parallel dazu eine Solidaritätskampagne: Unter dem Hashtag #WieDuUndlch kann jeder eigene Challenge-Bilder von sich zeigen. Egal, ob mit Behinderung oder ohne.(red)


Kampagnen-Sujet: «Marcel, fotogen. Damals wie heute.» Foto: Pro Infirmis