Ein Schweizer Rollstuhl überwindet Treppen

(Zürichsee-Zeitung / Bezirk Meilen)

Hilfe von Lil Wayne und Ashton Kutcher Das preisgekrönte Winterthurer Start-up Scewo bietet Gehbehinderten neue Perspektiven. Es habe das «Potenzial, Weltmärkte zu erobern». Noch sind die Stückzahlen aber tief.

Mathias Morgenthaler

Den schlimmsten Moment seiner Unternehmerkarriere hat Bernhard Winter gleich zu Beginn erlebt. Knapp fünf Jahre ist es her, da führte die ETH Zürich den ersten Cybathlon durch. Sie wollte publikumswirksam zeigen, wie Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen Alltagsaufgaben dank technologischer Assistenzsysteme besser bewältigen können.

Bernhard Winter hatte diesem Tag lange entgegengefiebert. Der Maschinenbau-Student und sein zehnköpfiges Team hatten in neun Monaten einen Elektro-rollstuhl entworfen, der Treppenüberwinden kann. Am Tag X war der Prototyp, der mit einer Viertelmillion Franken Spendengeldern gebaut worden war, bereit füreinen anspruchsvollen Hindernisparcours. Doch nach etwas mehr als einem Meter schaltete sich der Hightechrollstuhl aus und liess sich nicht wieder in Bewegung bringen.

Ein «grosser Flop» sei dasgewesen, sagt Bernhard Winter. Doch Winter und sein Kollege Thomas Gemperle liessen sich nicht entmutigen. Sie entwickelten die Technologie weiter und drehten in den darauffolgenden Monaten in Eigenregie Videos, die zeigten, dass ihr Hightechrollstuhl tatsächlich dank ausfahrbarer Raupen Treppen überwinden konnte.

Promis begeistert

Diese Videos verbreiteten sich rasend schnell in sozialen Netzwerken, auch dank der Hilfe von prominenten Fans wie dem Rapper Lil Wayne und Schauspieler Ashton Kutcher, die die Beiträge teilten. Und immer wieder fragten Kommentierende: «Warum gibts so etwas nicht schon längst?»Und: «Ist dieses coole Gerät überhaupt noch ein Rollstuhl?»

Auch das Feedback an einer Fachmesse in Deutschland war positiv. Da entschieden sich Gemperle und Winter im Sommer2017 zusammen mit einem Kollegen, noch vor Studienabschluss die Firma Scewo zu gründen und ganz auf die Karte Unternehmertum zu setzen.

Vier Jahre später ist Scewo eine Erfolgsgeschichte. Vor wenigen Tagen ist das Winterthurer Unternehmen mit dem mit 50’000 Franken dotierten Swiss Medtech Award ausgezeichnet worden. Der innovative Elektrorollstuhl habe das «Potenzial, Weltmärkte zu erobern», sagte ETH-Professor Mirko Meboldt in der Laudatio.

Dieser Meinung sind nicht nur die Juroren, sondern auch Investoren. Ebenfalls dieser Tage konnte Scewo eine dritte Finanzierungsrunde über 8,5 Millionen Schweizer Franken abschliessen, die es erlauben soll, das weitere Wachstum und die Expansion in Europa voranzutreiben.

«Unser Vorteil ist, dass sich Elektrorollstühle in den letzten 20 Jahren kaum verändert haben», sagt Firmenchef Winter. Die Scewo-Modelle punkten in diesem eher konservativen Markt mit modernem Design, mehr Funktionalität und ausgefeilter Steuerung mit Joystick und Smartphone-App.

Weltweit einzigartig sind laut Winter etwa die Möglichkeiten der Sitzverstellung: Ein Hochstellen bis 90 Zentimeter über Boden erlaubt den Benutzenden Gespräche auf Augenhöhe oder auch den Zugang zu den oberen Regalen im Supermarkt. Ein Absenken bis auf 43 Zentimeter über Boden macht einen einfacheren Transfer aufs WC oder aufs Bett möglich und – bei erhaltener Rumpfstabilität – das Aufheben von Gegenständen am Boden.

Die zwei grossen, robusten Räder, auf denen der Scewo-Roll-stuhl dank neuartiger Technologie balanciert, sorgen dafür, dass dieser auch auf Kies oder im unebenen Gelände sicher und ohne Rutscher vorankommt. In Gesprächen mit vielen Kundinnen und Kunden, die auf einen Rollstuhl angewiesen seien, habe er festgestellt, dass die meisten keine Freude an ihrem Fortbewegungsmittel hätten, sagt der 28-jährige Winter. Sein vorrangiges Ziel sei deshalb immer gewesen, ein«formschönes Produkt zu schaffen, auf das man stolz ist und das den Freiheitsgrad erhöht».

Ein Drittel teurer

Das Plus an Design und Technologie schlägt sich im Preis nieder. Mit rund 36’000 Franken ist der Scewo-Rollstuhl um rund ein Drittel teurer als hochwertige Konkurrenzprodukte. «Dank der integrierten Raupen, die Treppen überwinden können, spartman sich die Kosten für einen Treppenlift», sagt Bernhard Winter. Zudem würden Versicherungen in der Schweiz und Deutschland in vielen Fällen bei der Finanzierung mithelfen.

Aktuell ist die Nachfrage grösser als die Produktionskapazität. Die ersten Rollstühle des Startups sind bereits in der Schweiz, Deutschland und Österreich unterwegs, mehrere Dutzend weitere sind vorbestellt. Seit kurzer Zeit werden die Rollstühle mit einem Autobefestigungshaken produziert, sodass sie als Beifahrersitz verwendet werden können Hergestellt werden die Hightechgeräte in Stein am Rhein. Das soll laut Winter auch so bleiben, wenn ganz Europa beliefert wird. «Wenn wir hier produzieren, können wir flexibler auf den Markt reagieren und das Produkt weiterentwickeln», sagt der Gründer. Er rechnet damit, 2022 über 100 Rollstühle ausliefern zu kön nen, was das Unternehmen mit aktuell 36 Angestellten einen Schritt näher an die Gewinnschwelle bringen würde. Und sollte es je wieder einen Rückschlag geben: Winter weiss dank dem holprigen Start, wie man Widerstände überwindet.

Ein Hochstellen bis 90 Zentimeter über Boden erlaubt den Benutzenden Gespräche auf Augenhöhe.


Firmenchef Bernhard Winter beim Test des Scewo-Rollstuhls im Landesmuseum Zürich. Foto: Samuel Schalch