Ein Umdenken ist geforder

(SozialAktuell)

Kindeswohl als Argument für die schulische Segregation – Anmerkungen zu einem Entscheid des Bundesgerichts.

Der Ausschluss von Kindern mit einer Behinderung aus Regelschulen erfolgt häufig aufgrund fehlender finanzieller Mittel Text: Stefanie Kurt und Anita Heinzmann Bild: Redaktion.

Im Mai 2017 entschied das Bundesgericht, dass kein verfassungsmässiger Anspruch auf den Besuch einer Regelschule für ein Kind mit Behinderung besteht. Dem Entscheid liegt das Kriterium des Kindswohls zu Grunde. Im Umkehrschluss heisst dieser Urteilsspruch, dass mit der Begründung des Wohls von Kindern mit Behinderung bestehende Strukturen begünstigt und die Umsetzung von inklusiven Schulen gehemmt wird. Ein Umdenken bei der institutionellen schulischen Segregation scheint dringend gefordert.

Das am 15. Mai 2014 in Kraft getretene Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO BRK) betont die Wichtigkeit der integrativen Schulbildung. Art. 24 Abs. 1 UNO BRK hält fest, dass die Vertragsstaaten «das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung anerkennen». Um dieses Recht «ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen». Zwar ist die Schweiz völkerrechtlich verpflichtet, den Zugang zu den Bildungsangeboten diskriminierungsfrei zu gestalten und niemanden von der Nutzung aus diskriminierenden Gründen auszuschliessen (Art. 2 Abs. 3 und 4 UNO BRK), jedoch ist Art. 24 UNO BRK darüber hinaus richtungsweisender Natur (BB12013 661, S. 700).

Umsetzungsschwierigkeiten: UNO BRK und segregierendes Bildungssystem Der Bundesrat verweist im ersten Bericht zur Umsetzung der UNO BRK darauf, dass die kantonalen Gesetzgebungen den Vorzug der integrativen Einschulung gegenüber einer Sonderschule festhalten. Entscheidungsgrundlage bilden dabei das Kindeswohl, die Möglichkeiten der Entwicklung des Kindes und die schulischen und organisatorischen Rahmenbedingungen der öffentlichen Schule. Der Bundesrat geht davon aus, dass die Anforderungen der integrativen Schulbildung im Rahmen der UNO BRK somit erfüllt sind (Bundesrat, S. 40).

Parallel dazu und in Zusammenarbeit mit seinen 25 Mitgliederorganisationen schrieb Inclusion Handicap einen Schattenbericht aus Sicht der Betroffenen (vgl. Inclusion Handicap, online). Der Schattenbericht hält fest, dass ein grundsätzlicher Wandel in der Bildungspolitik nötig ist und Inklusion die Regel sein soll. Dafür braucht es ausreichende finanzielle Mittel von Bund und Kantonen. Denn der Ausschluss von Kindern mit einer Behinderung aus Regelschulen erfolgt häufig aufgrund fehlender finanzieller Mittel. Die nötige Assistenz für eine erfolgreiche Inklusion wird nicht gewährleistet. Eine weitere Schwierigkeit der aktuellen schulischen Strukturen besteht darin,
dass lediglich die Eltern in den Prozess betreffend sonderpädagogische Massnahmen einbezogen werden, jedoch nicht das Kind selbst (Art. 2d Interkantonale Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich Sonderpädagogik vom 25.10.2007). Insgesamt ist die Partizipation von Kindern mit einer Behinderung in schulbezogenen Verfahren nur unzureichend gewährleistet (vgl. Schattenbericht, S. 25). Schliesslich werden viele Kinder nach wie vor in Sonderschulen unterrichtet, trotz der rechtlichen und schulischen Anstrengungen (Bielefeldt, S. 4).

Der letztjährige Entscheid des Bundesgerichts unterstreicht, dass die Zieldimension der schulischen Inklusion fehlt. Zwar stellen die Richterin und die Richter das Kindeswohl in den Vordergrund, jedoch besteht kein verfassungsmässiger Anspruch auf integrative Einschulung für Kinder mit Behinderungen. Denn eine unterschiedliche Behandlung kann angezeigt sein, da jedes Kind nach seinen intellektuellen Fähigkeiten eine Schule besuchen soll (Bundesgerichtsurteil 2C_154/ 2017 vom 23. Mai 2017).


Ganzheitlicher Bildungszugang auch für Kinder mit Behinderung

Dieses im Bundesgerichtsurteil festgehaltene Argument der unterschiedlichen Behandlung von Kindern und der damit einhergehenden Kategorisierungen ihrer Inklusionsfähigkeit ist wenig stichhaltig.
Stattdessen sollte, wie von der UNO BRK gefordert, ein ganzheitlicher Bildungszugang angestrebt werden. Nicht das Kind muss den Beweis erbringen, dass es inklusionsfähig ist, sondern vielmehr müssen die Schulen darin unterstützt werden, Bildung für alle Kinder sicherzustellen und umzusetzen (Köpfer 2014, online).

Hier lohnt sich ein Blick nach Kanada, wo inklusive Schulen bereits seit 30 Jahren etabliert sind. Andreas Köpfer (s.d., online) führte im Rahmen seiner Dissertation eine Feldstudie in drei kanadischen Provinzen durch und formulierte daraus adaptierbare Konsequenzen für Deutschland. Grob skizziert, beschreibt Köpfer die Funktionsweisen der untersuchten Schulsysteme als Pyramide. An deren Spitze steht der direkte, individualisierte Unterricht. Dieser baut auf einem systemischen
Unterstützungssystem auf. Personelle Unterstützung erhalten Lehrpersonen einerseits von
Assistentinnen und Assistenten im Unterricht. Übergeordnet beraten sogenannte Methods &Resource Teams Lehr-personen bei methodisch-didaktischen Fragestellungen und übernehmen diverse Koordinationsaufgaben. Die kommunikative Ebene unterhalb spielt eine wichtige Rolle: Beratungs- und Austauschgefässe sind etabliert und fachlich gut aufgebaut. Inklusion wird dabei als Aufgabe für die
gesamte Schule betrachtet. Die unterste Ebene der Pyramide sieht vor, dass Fachpersonen auf die kulturhistorische Bedeutung vom Inklusionsbegriff sensibilisiert sind (vgl. ebd.).

Köpfer (2016, online) adaptierte die Idee der Methods &Resource Teams für Deutschland und skizziert mögliche Aufgaben von schulinternen Unterstützungs- und Beratungsteams. Diese umfassen direkte personelle Unterstützung im Unterricht, Unterstützung bei der didaktischen Planung und Durchführung von Unterrichtsprojekten, CO-Entwicklung individueller Entwicklungspläne und Aufbau von multiprofessionellen Kommunikationsstrukturen für Fallbesprechungen und Teamaustausch. Weiter stellen sie eine Koordin tionsstelle für schulorganisatorische Abläufe dar, die beispielsweise die Einteilung von Schulassistentinnen und Schulassistenten bis hin zur Organisation geeigneter therapeutischer Angebote regelt. Auch sollen sie haltungsvermittelnde Ansprechpersonen für Inklusion sein (vgl. ebd.).

Dabei sind nach Köpfer (2016, online) für die Implementierung folgende Punkte relevant: Erstens sind die Unterstützungs und Beratungsteams eine didaktisch-methodische Unterstützung innerhalb und ausserhalb des Klassenraumes und zweitens bedarf es einer entsprechenden didaktischen Expertise. Dabei ist die Unterstützung situativ auf alle Kinder ausgerichtet, ohne rein sonderpädagogische Zu-
ständigkeit. Konsequenterweise braucht es für die Umsetzung dieses grossen Aufgabenfelds genügend Zeit und Raum (vgl. ebd.)


Stefanie Kurt, Assistenzprofessorin FH, Dr. iur., Fachhochschule Soziale Arbeit, HES-SO, Siders


Anita Heinzmann, Wissenschaftliche Mit-arbeiterin, Fachhochschule Soziale Arbeit, HES-SO, Siders

Ausschlusskriterium Kindeswohl Anders zeigt sich die aktuelle Situation in der Schweiz. Das Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen (BehiG) hält fest, dass die Kantone «mit entsprechenden Schulungsformen die Integration behinderter Kinder und Jugendlichen in die Regelschule» (Art. 20 Abs. 1) fördern. Jedoch geht diese Verpflichtung nur «soweit dies möglich ist und dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient» (Art. 20 Abs. 2 BehiG). Das Kindeswohl wird so zum gesetzlichen Ausschlusskriterium und zum Hindernis für einen ganzheitlichen Bildungszugang in der Schweiz. Auch wenn in der Schweiz aktuell der politische Wille für ein Umdenken fehlt (Bielefeldt 2017, 5ff.), ist es zentral, dass nicht mehr der Beweis der Inklusionsfähigkeit eines Kindes in den Mittelpunkt gestellt wird, sondern im Sinne der UNO BRK ein Bildungszugang für alle Kinder geschaffen wird.


Nicht das Kind muss den Beweis erbringen, dass es inklusionsfähig ist, sondern die Schulen müssen darin unterstützt werden, Bildung für alle Kinder umzusetzen.

Insgesamt ist die Partizipation von Kindern mit einer Behinderung in schulbezogenen Verfahren nur unzureichend gewährleistet