Ein Vermögen für ein selbstbestimmtes Leben

(Neue Zürcher Zeitung)

Wenn Menschen mit Behinderung eine moderne Prothese wollen, übernimmt die IV meist nur einen Teil der Kosten.

LARISSA RHYN
Simon Raaflaub steigt vom Rennrad und schliesst es an einem Zaun auf dem Basler Kasernenareal ab. Sein Gang ist etwas steif, als er die paar Schritte ins Caf Ka-Bar geht. Ein verstauchter Fuss, möchte man glauben. Doch Raaflaub fehlt ein Bein. Er trägt eine Prothese, seit sein Bein nach einer Krebserkrankung amputiert werden musste. Kurze Distanzen kann er dank einem modernen Kniegelenk ohne Krücken zurück-legen. Aber das musste sich der 34-Jährige erst erkämpfen.

Die Invalidenversicherung (IV) finanziert eine Prothese, wie Raaflaub sie trägt, nur in Ausnahmefällen. Als er zum ersten Mal ein Kniegelenk der neusten Generation – ein sogenanntes «C-Leg» – wollte, musste er deshalb rund die Hälfte der 30 000 Franken selbst bezahlen. Die IV übernahm nur so viel, wie ein einfacheres Modell gekostet hätte. «Zum Glück halfen meine Grossmutter und ein Verein bei uns im Quartier aus», erzählt Raaflaub.

Die neue Behindertenpolitik, die der Bundesrat letztes Jahr beschlossen hat, soll Menschen mit Behinderung ein selbständiges Leben ermöglichen. Doch nicht immer bekommen Betroffene die Hilfsmittel, die sie brauchen würden -obwohl diese auf dem Schweizer Markt erhältlich sind. Nach den Kriterien der IV sind sie schlicht zu teuer. Darum fordert eine Motion, dass die Sozialversicherungen künftig die Kosten für «optimale Hilfsmittel» übernehmen.Es sei stossend, dass Behinderten heute eine Verbesserung der Lebensqualität nur aus finanziellen Motiven verweigert werde, heisst es in der Begründung.Die Motion fand Unterstützer in allen Parteien, und der Nationalrat sagte klar Ja. Als Zweites war am Mittwoch der Ständerat an der Reihe.

«Das Geld ist gut investiert»

Als Hilfsmittel gelten auch Elektrorollstühle oder Vorrichtungen für das Auto oder den Haushalt. Unter den strengen Kriterien der IV leiden jedoch vor allem Personen mit Prothese,weil in diesem Bereich der technologische Fortschritt besonders schnell ist. Heute bezahlt die IV elektronisch gesteuerte Gelenke für Prothesen nur in Ausnahmefällen – nämlich dann, wenn ein Betroffener aus beruflichen Gründen darauf angewiesen ist.

Simon Raaflaub machte genau das geltend, als er vor einigen Jahren eine neue Knieprothese brauchte. Er arbeitet in einem Architekturbüro und muss regelmässig auf die Baustelle. Mit dem elektronisch gesteuerten Kniegelenk kann er sich dort sicherer bewegen.«Ein befreundeter Anwalt half mir beim Schreiben an die IV», erzählt er. Dank dessen Tipps konnte er sich auf einen Gerichtsentscheid beziehen, der kurz zuvor verlangt hatte, dass die IV unter gewissen Bedingungen ein modernes Kniegelenk finanzieren müsse. Er sagt:«Die Prothese ist teuer, aber das Geld ist gut investiert. So kann ich 100 Prozent arbeiten, anstatt zu Hause zu sitzen und vom Staat abhängig zu sein.»

Ein fairer Zugang für alle

Raaflaub hatte mit dieser Strategie Erfolg: Als er die Prothese ersetzen musste,übernahm die IV die gesamten Kosten.Doch er kennt viele andere, die noch immer vergebens auf das neuste Modell hoffen. Raaflaub setzt sich nun im Vorstand des Vereins Promembro dafür ein,dass sich das ändert. Er kritisiert, dass man heute ohne juristische Hilfe kaum Chancen auf eine zeitgemässe Prothese habe. Das lässt Stefan Honegger, der bei der IV den Hilfsmittelbereich leitet, nicht gelten: «Wir schauen uns den Einzelfall immer genau an und versuchen eine möglichst zweckmässige Versorgung sicherzustellen.»

Behindertenverbände stören sich aber auch daran, dass die IV nur auf den beruflichen Bedarf achtet. Wer nicht arbeitet, hat kaum Chancen, ein teureres Modell zu erhalten. Raaflaub sagt: «Für die soziale Integration kann es enorm wichtig sein, dass man eine Prothese hat, die zeitgemäss ist und mit der man sich gut bewegen kann.» Das gelte auch für Personen, die nicht arbeiten können. Manche schämten sich, humpelnd oder mit Krücken auf andere zuzugehen. Mit einem besseren Kniegelenk fällt eine Prothese weniger auf – und der Körper als Ganzes kann im Idealfall entlastet werden. Dadurch könne man mehr unternehmen und auch die berufliche Reintegration werde erleichtert, sagt Raaflaub.

Er findet, dass es nicht immer das teuerste Modell sein müsse. «Man muss nicht nach dem Giesskannenprinzip vorgehen.» Doch die IV solle besser auf die individuellen Bedürfnisse eingehen. Der ehemalige Paralympics-Skirennfahrer zieht einen Vergleich zum Sport: «Manche Amateure können mit einem Profiski nicht umgehen. Aber es sollten zumindest alle testfahren dürfen.»

Nun hat der Ständerat über die Motion für bessere Hilfsmittel entschieden. Er hat sie abgelehnt, dafür aberals Alternative ein Postulat angenommen. Dieses hat die Gesundheitskommission ausgearbeitet. Es verlangt weitgehend dasselbe – lässt aber das Kriterium weg, dass ein Hilfsmittel «optimal» sein soll. Was wie ein unwichtiges Detail klingt, war aus Sicht des Bundesrats ein grosses Problem. Honegger erklärt, warum: «Wenn die IV jedem das Hilfsmittel finanzieren müsste, könnten die Hersteller künftig höhere Preise verlangen, weil dieSozialversicherungen die Kosten un-eingeschränkt tragen müssten.»

Teure moderne Hilfsmittel

Heute sind im Gesetz andere Kriterien für Hilfsmittel festgelegt: Einfach, wirtschaftlich und zweckmässig sollen sie sein. Damit fallen die neusten – und teuersten – Modelle oft weg. Honegger macht auch die Hersteller dafür verantwortlich: «Die Preise für manche Prothesen der neusten Generation sind s ohoch angesetzt, dass sich die Finanzierung durch die IV nicht rechtfertigen lässt.» Der Mehrwert für die Lebensqualität der Betroffenen rechtfertige die Mehrkosten nicht.

Eine Gesetzesänderung wäre wichtig – gerade weil die technologische Entwicklung immer schneller vorangeht. Das findet auch Honegger. Ererwartet, dass die IV künftig noch häufiger vor schwierige Entscheide gestellt wird: «Die Entwicklung geht rasant voran, bald dürften beispielsweise erste Exoskelette auf den Markt kommen, die Gehbehinderten das Laufen ermöglichen.» Honegger hofft, dass möglichst viele Betroffene von solchen Entwicklungen profitieren können. Dafür müssten sie für die IV aberfinanzierbar sein.

Sollen Preise festgesetzt werden?

Mit dem neuen Vorstoss soll der Bundesrat ein Preissetzungsverfahren für Hilfsmittel prüfen – ähnlich, wie es dies heute schon für Medikamente gibt. Damit könnten die Sozialversicherungen die Kosten beeinflussen. Nationalrat Balthasar Glättli (gp.), der das Thema zusammen mit Roger Golay(svp.) ins Parlament gebracht hat, begrüsst den neuen Vorschlag und sagt:«Das könnte den Weg für eine rasche und breit abgestützte Gesetzesänderung öffnen.» Raaflaub sieht das ähnlich: «Je schneller etwas passiert, desto besser.» Er muss bald wieder eine neue Prothese haben – und hofft, dass er diese auch ohne die Hilfe seines Anwalts bekommt.


Als Simon Raaflaub erstmals ein Kniegelenk der neusten Generation wollte, musste errund die Hälfte der Kosten selbst bezahlen.CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ