Eine Ärztin zählt die «Opfer» der IV-Sanierung

Dank einer drastischen Reduktion der neuen Rentenfälle wurde die Invalidenversicherung saniert. Doch einige Psychiater werfen der IV vor, sie schreibe Kranke gesund und verlagere die Kosten auf die Sozialhilfe.

Gemäss der Studienautorin wirkt sich eine Rente bei Schmerzpatienten stabilisierend aus. Foto: Getty Images

In den letzten sieben Jahren erhielt die Invalidenversicherung (IV) jährlich eine Milliarde Franken aus der Mehrwert- steuer und fand aus den roten Zahlen heraus. 2018 fällt nun die Finanzspritze weg, die IV ist saniert. Dazu beigetragen hat die verstärkte Arbeitsintegration, vor allem aber die verschärfte Renten-praxis. Seit 2003 halbierte sich die Zahl der Neurenten von 28 000 auf 14 000. Aus Sicht mancher Ärzte, vor allem Psychiater, zahlen jedoch gesundheitlich schwer angeschlagene Menschen und die Sozialämter den Preis für die IV-Sanierung. Doris Brühlmeier-Rosenthal, die eine psychiatrische Praxis in Schlieren führt, nennt als Beispiel einen depressiven Patienten, der nach drei Herzinfarkten noch über ein Drittel der ursprünglichen Herzleistung verfüge und dem ein Defibrillator eingesetzt wurde. Diesem Mann habe die IV beschieden, dass er bei angepasster Tätigkeit voll arbeitsfähig sei. Oder einer durch Inzest schwer traumatisierten, stark depressiven Patientin mit Schmerzstörungen sei nach zwölf Jahren die Rente innert Monatsfrist aufgehoben worden.

Die Psychiaterin empörte sich so über den Umgang der IV mit manchen ihrer Patienten, dass sie eine Umfrage unter Berufskollegen machte. Mithilfe von Fragebogen analysierte sie 402 Fälle aus den Kantonen Zürich und Aargau und identifizierte 177 «IV-Opfer». Die Auswertung publizierte sie in der «Schweizerischen Ärztezeitung». Bei 43 der 177 wurde die Rente annulliert, bei 134 wurde sie trotz chronischer Krankheit verweigert. «Rente ist ein Segen» Bei fast allen, denen die IV-Rente verweigert oder annulliert worden sei,habe sich in der Folge die Krankheit verstärkt. Viele Betroffenen seien bei der Sozialhilfe gelandet, sagt Brühlmeier. Sie spricht von «sozialem Tod». «Dass Rentenverweigerung zu Erwerbstätigkeit führt, wie vom Bundesgericht und der IV behauptet, ist in meiner Umfrage 177-fach widerlegt.» Bei psychiatrischen und neurologischen Patienten sowie Schmerzpatienten wirke gerade die Rente häufig stabilisierend, ermögliche Erwerbstätigkeit und sei deshalb «ein Segen». Dies zeige sich in den anderen 225 der total 402 Fälle. Ein Drittel bis die Hälfte dieser Patienten sei teilweise berufstätig. Die Kosten der psychiatrischen Betreuung betrügen bei diesen Patienten nur noch 10 Prozent der Kosten vor der Berentung. Von ihren Patienten mit einer IV-Teilrente seien 87 Prozent erwerbstätig, von den Vollrentnern habe fast die Hälfte ein kleines Arbeitspensum, sagt Brühlmeier. Die Streichung der IV-Rente führe hingegen oft dazu, dass Betroffene die Arbeitsfähigkeit verlören. Brühlmeier räumt ein, dass es sich bei ihrer Umfrage nicht um eine wissenschaftliche Studie handle. Aber die Auswertung habe eine «gewisse Aussagekraft». Sie fordert eine Abkehr der IV von der «Rentenverweigerungs praxis». Bei Rentenentscheiden und beruflichen Integrationsmassnahmen solle auf die Empfehlungen der behandelnden Ärzte eingegangen werden. Allerdings teilen nicht alle Brühlmeiers Kritik. Die Neuausrichtung der IV sei richtig gewesen, sagt Niklas Baer, Leiter der Fachstelle für psychiatrische Rehabilitation der Psychiatrie Baselland. Vereinzelt hätten die Rentenüberprüfungen sicher zu Härtefällen geführt. «Natürlich ist es problematisch, jemandem nach Jahren eine Rente wieder abzusprechen.» Umso wichtiger sei es, bei den Neuberentungen sehr kritisch zu sein. Baer findet die pauschale Aussage, dass psychisch Kranke dank einer IV- Rente arbeitsfähig würden,falsch.

Manchmal könne auch ein gewisser Integrationsdruck Ressourcen freisetzen.«Da wird ein Bild vom glücklichen Rentenbezüger gezeichnet, der nur deshalb arbeiten kann, weil er eine Rente bekommt. Oft sind die Zusammenhänge viel komplexer.» Baer begrüsst es, wenn solche Daten vermehrt erhoben werden.
«Es ist aber unklar, ob die hier vorhandenen Daten und Auswertungen derartige Schlussfolgerungen zulassen.» Auch für das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) lässt «die Art und Weise» von Brühlmeiers Erhebung keine allgemeinen Schlüsse auf die Rentenpraxis zu. Möglicherweise habe die Psychiaterin vor allem Rückmeldungen von Ärzten bekommen, die mit entsprechenden Fällen konfrontiert seien. Einzelne Patienten mit psychischen Störungen könnten zwar auf den Verlust der Rente sensibel reagieren. Dennoch handle es sich um Einzelfälle, in denen sich die psychische Gesundheit wegen einer Rentenreduktion verschlechtert habe, sagt BSV-Vizedirektor Stefan Ritler. In erster Linie müsse die ärztliche Behandlung zur Stabilisierung führen. In vielen Fällen sei die Rente keine Lösung.

Die Praxis der IV verursache Sozialfälle, sagt der Präsident der Sozialhilfekonferenz. Die IV bestreitet dies. Mit der 4. und 5. IV-Revision verstärkte die Invalidenversicherung (IV) ihre Inte- grationsmassnahmen. Mit der 6. und bislang letzten Revision setzte sich die IV das Ziel, rund 17000 Rentner in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Prioritär überprüft und annulliert wurden die Renten von Schmerzpatienten und Patienten mit Schleudertrauma, die keinen Anspruch mehr auf eine Rente haben. Eine abschliessende Bilanz der IV darüber, wie viele Renten annulliert und wie viele Rentner integriert wurden, steht noch aus. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) wirft der IV indes vor, mit der strengeren Rentenpraxis Menschen zur Sozialhilfe abzuschieben. Diesen Effekt bestreitet die IV: Weiterhin wechselten mehr Menschen von der Sozialhilfe in die IV als umgekehrt, heisst es beim zuständigen Bundesamt.

Felix Wolffers, Co-Präsident der Skos und Leiter des Stadtberner Sozialamtes, kritisiert allerdings, dass die IV-Statistik die Verlagerung auf die Sozialhilfe nur teilweise wiedergebe. Die Sozialämter seien immer häufiger mit Menschen konfrontiert, die keine Chance auf einen Arbeitsplatz hätten. Sie seien oft zwar zu krank für den Arbeitsmarkt, allerdings zu gesund für die Invalidenversiche- rung. «In vielen Fällen, in denen die IV eine Arbeitsfähigkeit attestiert, wirkt dies angesichts des Gesundheitszustands unrealistisch, in Einzelfällen sogar zynisch.» Weil die Verfahren der IV oft mehrere Jahre dauerten, seien viele Antragsteller während der Abklärungsphase auf Sozialhilfe angewiesen, sagt Woffers. Werde ihnen dann eine Rente zugesprochen, weise die IV dies als Verlagerung von der Sozialhilfe in die IV aus. Dies sei einer der Gründe, weshalb die IV-Statistik die wahren Effekte nicht wiedergebe. Zudem würden viele Personen nicht mehr bei der IV angemeldet, weil angesichts der Rentenpraxis keine Chance auf eine Rente bestehe. Und nach einer Aufhebung der IV-Rente dauere es oft mehrere Jahre, bis Betroffene zur Sozialhilfe kämen, weil sie zuerst das Vermögen aufbrauchen müssten oder die Familie zunächst für sie aufkomme.

source: Der Bund