Eine Bewegung gründen

(Tages-Anzeiger)

Gastbeitrag von Thomas Manhart
In den Heimen sind alte und behinderte Menschen Gefangene, TA vom 26.5.

Lobby aufbauen

Aus ganzem Herzen unendlich vielen Dank für diesen Text! Seit dem 13. März bin ich fassungslos darüber,was den alten und jungen Heiminsassen unter dem Mantel des «Schutzes»angetan wird. Und je mehr für alle anderen gelockert wird, desto schlimmer und unerträglicher wirds. Sie sprechen mir und vielen anderen Betroffenen aus der Seele. Diese Hilflosigkeit und Machtlosigkeit kann einen fast wahnsinnig machen. Man sollte eine Bewegung gründen, man müsste eine Lobby aufbauen. Auch wenn dieser Gedanke den Entscheidungsträgern und leider einem Grossteil der Bevölkerung fremd ist – wir alle werden selber auch alt, wir alle können entweder im Alter oder aus anderen Gründen von heute auf morgen in eine Abhängigkeit geraten.Diejenigen, die heute die Einsperrersind, könnten schon morgen selber eingesperrt werden. Man sollte den anderen immer so behandeln, wie man selber auch behandelt werden möchte.
Lisa Schnebli, Zürich

Reflexionen über die Folgen fehlen

Auch ich musste während der vergangenen Wochen meiner 91-jährigen Mutter täglich am Telefon erklären,dass wegen des Coronavirus meine Besuche bei ihr im Heim nicht erlaubt sind. Dass in der demokratischen Schweiz alte und behinderte Menschen über Wochen in Institutionen isoliert und eingesperrt werden und Besuche von Angehörigen verboten sind, ist meines Erachtens stossend. Auf welchen rechtlichen Grundlagen basieren diese Entscheidungen? Missachtet werden bei diesen rigorosen Massnahmen die Würde und die Freiheitsrechte, obwohl diese durch die Bundesverassung gewährleistet sein sollten. Bei den verhängten Massnahmen stand einseitig der gesundheitliche Aspekt im Vordergrund. Soziale und psychologische Überlegungen wurden nicht einbezogen. Es fehlten die Reflexionen über die Auswirkungen und Folgen für die Betroffenen. Auch sogenannte gute Absichten sollten regelmässig kritisch hinterfragt und auf ihre Wirkung überprüft werden. Wer setzt sich, auch in der Öffentlichkeit, für die Rechte von alten und behinderten Menschenein? Was bedeutet es auch für unsere Gesellschaft, wie wir in Krisensituationen mit ihnen umgehen? Alte und behinderte Menschen aus Angst wegzusperren, darf nicht mehr so vorkommen. Auch in einer zweiten Phase nicht. Ich erwarte von Fachleuten kreativere und respektvollere Lösungen.
Jeannine Schälin, Rotkreuz

Es braucht humane Einzelfalllösungen

Der Indikator für eine funktionierende demokratische und inklusive Gesellschaft liegt gerade im Umgang mit ihren besonders vulnerablen Menschen. Besonders in Krisenzeiten bedarf es der uneingeschränkten Sensibilität, um für die Bedürfnisse jener Menschen kraftvoll einzustehen,die ihre eigene Stimme nicht (mehr)erheben können oder einfach nicht gehört werden. Auch wenn die behördlichen Schutzmassnahmen zweifellos dem Gesundheitswohl dienen sollen,so müssen Verhältnismässigkeit und Rechtmässigkeit permanent neu überprüft und bewertet werden. Was Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung und Betagte in ihren Wohnstätten seit mehr als zehn Wochen trotz Bundesverfassung und Strafrecht widerfährt, erfüllt partiell die Tatbestände der Freiheitsberaubung und der Nötigung. Man denke zum Beispiel nur an die vielen jungen Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung, die nicht zu den Risiko-gruppen zählen, die aber seit März weder Besuch empfangen noch ihre Institution verlassen dürfen. Es braucht von den Verantwortlichen gerade jetzt Augenmass und die Bereitschaft für humane, auch unkonventionelle Einzelfalllösungen.
Familie Sandoz-Meyund Verein Inclusion 360, Zürich