Eine Sprache wie die Lautsprache

(Curaviva)

Gehörlose Menschen hätten eigentlich Anrecht auf Gebärdensprachdolmetscher

Das Behindertengleichstellungsgesetz erlaubt gehörlosen Menschen, Gebärdensprachdolmetscher zu beanspruchen, wenn diese in der Kommunikation mit der Umwelt zwingend sind.Der Bedarf ist längst nicht abgedeckt. Und wer die Dienste bezahlt, ist immer wieder strittig.

Die meisten Leserinnen und Leser werden wohl kurz geschmunzelt haben. Über die Nachricht selbst, die Ende des letzten Jahres in fast allen Schweizer Zeitungen und News-Portalen zu lesen war, dürften die wenigsten aber länger nachgedacht haben. Die Meldung: Zur Gebärde des Jahres sei – analog zu den Wörtern und Unwörtern des Jahres in der gesprochenen Sprache – vom Gehörlosenbund «Alain Berset»gekürt worden, eine Handbewegung mit Daumen und Zeigefinger am Kopf vorbei. Eine Anspielung auf Bersets (Nicht-)Frisur.

Die Auszeichnung einer «Gebärde des Jahres» – im letzten November vom Gehörlosenbund zum dritten Mal vergeben – ist allerdings mehr als ein lustiges Aperçu. Der Gehörlosenbund macht damit auch darauf aufmerksam, dass die Gebärdensprache eine Sprache ist wie die gesprochene Sprache auch – und entsprechend Trägerin einer Kultur, die sich verändert, die Einflüsse neu integriert.

In der breiten Bevölkerung ist diese Tatsache allerdings noch lange nicht angekommen, trotz Behindertengleichstellungs-gesetz und Uno-Behindertenrechtskonvention, die auch in der Schweiz gehörlosen Menschen oder Menschen mit starken Höreinschränkungen das Recht auf die Gebärdensprache undentsprechend das Recht auf Dolmetscherdienste einräumen,um mit der hörenden Welt kommunizieren zu können.

Die Schweiz hinkt hintennach

Da allerdings hat die Schweiz noch einiges nachzuholen. Zwargibt es in der Schweiz rund 120 Gebärdensprachdolmetscher für gut 10000 Gehörlose oder schwer eingeschränkte Hörbehinderte. Das reiche gerade, sagt man beim Gehörlosenbund,schliesst aber das Tessin und die Romandie aus, weil es dort an Dolmetschern mangelt, da es keine Ausbildungsangebote gibt. Im Vergleich zum Ausland -etwa mit Dänemark -sei aber auch die Zahl der Dolmetscherinnen und Dolmetscher in der Deutschschweiz noch immer gering. Die nur etwas über hundert Dolmetscherinnen und Dolmetscher würden sicherlich kein lückenloses Angebot garantieren können, würden alle Gehörlosen konsequent Gebärdensprachdolmetscher anfordern, wenn sie ein Recht darauf haben: für Gemeindeversammlungen etwa, für Familienfeste, beim Arztbesuch, im Verkehr mit Ämtern. «Das Bedürfnis nach Gebärdensprachdolmetscherinnen und-dolmetschern ist nicht abgedeckt», sagt HeidiStocker. Sie ist Dozentin beim Studiengang Gebärdensprachdolmetschen an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH)in Zürich. Wie viele Dolmetscher es tatsächlich bräuchte, würden alle Gehörlosen immer ihr Recht einfordern, könne sie zwar nicht beziffern. «Aber der Schweizerische Gehörlosenbund fordert eine Vordoppelung der aktuellen Anzahl, das wäre auf jeden Fall ein Anfang.» Dass in der Schweiz das Bewusstsein dafür fehlt, dass die Gebärdensprache eine eigene Sprache ist – und in der Schweiz in fünf Dialekten gesprochen wird -, hat auch mit der über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte in Taubstummenschulen und-anstalten praktizierten Pädagogik zu tun. Zwar waren im

Von Urs Tremp
19. Jahrhundert in der Schweiz die Gehörlosen langsam vom Stigma der «Bildungsunfähigkeit» befreit worden und man attestierte ihnen Anspruch auf Bildung. Die Taubstummenschulen aber verfolgten einen Lautsprachunterricht, die Gebärdenals alternative Kommunikationsform waren verboten und den meisten Lehrern unbekannt.

Pädagogik des 19. Jahrhunderts

«In den Taubstummenanstalten lernen die Kinder auf ganz eigen gerichtete Weise nicht etwa nur anständige Sitte, gefälligen Umgang, nützliche Hausbeschäftigungen allerart, sie lernen mit den Augen hören, indem sie die Lippenbewegung der Sprechenden beobachten und sogar selber deutlich sprechen. Ihr Verstand wird gebildet und mit Kenntnissen versehen. So viel vermag weiser Unterricht und fromme Erziehung selbst bei Taubstummen!» So schrieb es der Aargauer Pädagoge, Philosoph und Pionier der Gehörlosenschule, Heinrich Zschokke, in den dreissiger Jahren des 19.Jahrhunderts. Und noch hundert Jahre später beschrieb der deutsche Psychiater den «Taubstummen» als «leicht erregbar,der mit seinem mimischen Ausdruck einen nervösen Eindruck macht».

Bis spät ins 20. Jahrhundert galt die Gebärdensprache im besten Fall als Krücke, die gehörlosen Menschen sollten Lippenlesen, Buchstaben lesen und sich akustisch ausdrücken lernen.Dass der Spracherwerb für gehörlose Menschen ganz anders funktioniert, schien lange niemand für wichtig zu halten. Noch in den achtziger Jahren – so berichtete eine gehörlose Frau vor einigen Jahren in der Zeitschrift «Beobachter» – habe sie in der Schule zur Strafe hundertmal den Satz«Ich darf nicht gebärden» von der Tafel abschreiben müssen.Erst in den letzten zwanzig Jahren hat ein grundsätzliches Umdenken stattgefunden.Noch ist zwar die Gebärdensprache keine offiziell anerkannte Landessprache (wie etwa in Neuseeland). In den kantonalen Verfassungen von Zürich und Genf wird sie immerhin erwähnt. Die Innerrhoder Landsgemeinde hat im vergangenen Frühjahr live in Gebärdensprache übersetzt. Und die Stadt Bern hat vor Kurzem damit angefangen, auf der städtischen Internetseite wichtige Informationen in Gebärdensprachvi-deos zu verbreiten.

Bezüge sind limitiert

Der Gehörlosenbund wünscht sich allerdings weitere derartige Dienstleistungen. Die Vermittlung von Gebärdensprach-dolmetschern liegt in der Schweiz bei der Organisation Pro -Com, einer Stiftung, welche diese Aufgabe vor knapp zwanzig Jahren von den Gehörlosenvereinigungen übernommen hat.Die Kosten für die Dolmetscherdienste übernimmt in der Regel die Invalidenversicherung (IV). Allerdings sind die Bezüge für einzelne Versicherte limitiert, sodass praktisch jedes Gesuch wieder neu bewertet werden muss. Ruedi Graf, Regional-leiter Deutschschweiz beim Gehörlosenbund, sagt: «Die Her-ausforderung ist nicht nur der Mangel an Dolmetschern,sondern auch die Finanzierung der Dolmetscherleistungen.Ich zeige dies am Beispiel Arbeitsplatzförderung: Heute bezahlt der Staat für Zugang, Informationen, interne Schulungenund so weiter maximal 1763 Franken pro Monat. Das sind etwa 12 Dolmetscherstunden pro Monat. Ein Gehörloser mit einer verantwortungsvollen Aufgabe braucht sicher mehr als das.Also behindert diese Regel aktiv die Inklusion von gehörlosenund hörbehinderten Menschen in den Arbeitsmarkt.» Konkret:Wer gehörlos ist und eine Kaderposition mit entsprechend mehr Sitzungen und Kommunikationsbedarf bekleidet,kommt damit schnell an die Grenzen. Er oder sie muss auf einen kulanten Arbeitgeber hoffen, muss selbst in die Taschegreifen oder kann für Dolmetscherdienste ausserhalb der Erwerbsarbeit (Freizeit, Verein) Geld aus einen Spezialfonds derIV beantragen.

Gehörlosigkeit ist keine Behinderung

Gehörlosigkeit sei keine Behinderung, sagt Graf. Wer gehörlosist, werde behindert. «Wir werden noch oft für nicht voll genommen.» Was das konkret heisst, zeigt die jährlich erhobene Liste der Diskriminierungsfälle des Schweizerischen Gehörlosenbundes. Im letzten Jahr waren es 76 Fälle, die eingegangen sind. Bei den weitaus meisten ging es um die Finanzierungvon Hilfsmitteln, zu denen auch die Dolmetscher gehören.Eine Krankenkasse etwa weigerte sich, die Dolmetscherkos-ten bei der Psychotherapie einer hörbehinderten Person zu übernehmen.

Mit dieser Liste macht der Schweizerische Gehörlosenbund Druck, dass die Einschränkungen aufgehoben werden und der effektive Bedarf an Dolmetschereinsätzen vom Bundbezahlt wird, wie es das Behindertengleichstellungsgesetz und die Uno-Behinderten-rechtskonvention eigentlich vorsehen würden. Zudem soll der administrative Aufwand reduziert werden. Heute müssen Gehörloseweit voraus planen, für wann sie einen Dolmetscher engagieren möchten. «Viele Gehörlose scheuen den Aufwand», sagt Sabine Von lanthen von ProCom. «Kurzfristige Einsätze sind fast nur in Notfällen möglich.» Eine hoch flexible Dolmetscherorganisation würde freilich eine massiv höhere Zahl von Dolmetscherinnen und Dolmetschern bedingen. Derzeit sind es pro Jahr etwas mehr als ein Dutzend Studierende, die an der Interkantonalen Hochschulefür Heilpädagogik (HfH) in Zürich den Studiengang Gebärdensprachdolmetschen aufnehmen.
Heidi Stocker von der HfH macht allerdings ein Dilemma aus:Man hätte zwar gerne mehr Studierende und bewirbt den Lehrgang auch aktiv. «Doch das Problem liegt auf einer anderen Ebene. Die langfristige Finanzierung der Dienstleistung GSD ist nicht gesichert. Setztsich unsere Gesellschaft die grösstmögliche Teilhabe gehörloser Menschen an ihr tatsächlich als ernsthaftes Ziel, so muss hier angesetzt werden.»

Teilhabe ist nicht gesichert

Ein – zumindest vorläufig – noch ziemlich
frommer Wunsch. Eine Studie der ZHAW im Kanton Zürich hatim vergangenen Herbst gezeigt, dass nur bei Bau und Mobilitätsfragen Menschen mit einer Behinderung systematisch mit einbezogen werden. «Menschen mit einer Seh- oder Hörbehinderung», stellten die Studienverfasser fest, «erhalten nicht die erforderliche Hilfe bei Barrieren im Alltag.» Gebärdendolmetscher gebe es zu wenige.

Gehörlose müssen weit voraus planen, wenn sie einen Dolmetscher engagieren möchten.Noch in den achtziger Jahren galt für Gehörlose:«Ich darf nicht gebärden.»«Das Bedürfnis nach Gebärdensprach-dolmetscherinnen und -dolmetschern ist nicht abgedeckt.


Taubstummenanstalt Turbenthal (1913), Gebärdensprach-dolmetscherin (2017): Von der Laut- zur Gebärdensprache.

 


Studentinnen und Studenten des Studienlehrgangs Gebärdensprachdolmetschen an der HfH in Zürich: Es gibt noch zu wenige.