Einseitige IV-Ärzte dürfen weiter abkassieren

(SonntagsBlick)

Der Bund gelobt Besserung im umstrittenen IV-Gutachterwesen. Von einschneidenden Massnahmen aber sehen die Verantwortlichen ab.
THOMAS SCHLITTLER

 

Vor rund einem Jahr zeigte SonntagsBlick in einer Artikelserie auf, dass die Invalidenversicherung (IV) seit einigen Jahren alles daransetzt, möglichst wenige Renten auszahlen zu müssen.

Die Recherchen belegten unter anderem, dass Ärzte, die Versicherten selten bis nie eine Arbeitsunfähigkeit attestieren, von der IV besonders viele Aufträge erhalten – und für ihre Gutachten Millionen kassieren.

Ende 2019 reagierte Sozial-minister Alain Berset (48) auf die lauter werdende Kritik.

Er gabeine interne und eine externe Untersuchung in Auftrag. Beide sollten Strukturen und Praktiken der IV analysieren.

Diese Woche präsentierte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) die Ergebnisse – und gestand erstmals ein, dass nicht alles optimal gelaufen sei. Man will die Aufsicht und Qualität der medizinischen Begutachtung in der IV anpassen. Konkret sollen Zielvereinbarungen mit den IV-Stellen überarbeitet, die Perspektive der Versicherten einbezogen,Probegutachten verlangt und Rückmeldungen an die Gutachter verbessert werden.

Ärzte, Psychiater und Behindertenorganisationen begrüssen diese Änderungen, bemängeln aber,dass nicht mehr getan wird, um einseitige Gutachter aus dem Verkehr zu ziehen.«Die schwarzen Schafe unter den IV-Ärzten dürfen nach wie vor medizinische Begutachtungen durchführen,Menschen innerhalb von 20 Minuten für gesund erklären und damit viel Geld verdienen», sagt Alex Fischer von der Behindertenorganisation Procap. Auch den Miss-stand, dass zehn Prozent der Gutachter drei Viertel aller Gutachten ausstellen, gehe der Bund nicht an.«Das BSV sträubt sich dagegen, monodisziplinäre Gutachten nach dem Zufallsprinzip zu vergeben»,so Fischer. Das sei nicht nachvollziehbar. Dadurch werde das Geschäftsmodell einseitiger IV-Ärzte am Leben erhalten.

Das BSV wehrt sich. «Bevor allenfalls ein neues Vergabesystem eingeführt wird, sollen die nun empfohlenen Massnahmen erst einmal umgesetzt und evaluiert werden», sagt Sprecher Rolf Camenzind. Sollten die erhofften Verbesserungen nicht eintreten,sei jedoch selbstverständlich ein Systemwechsel in Betracht zu ziehen. «Darum wird das BSV zusammen mit den kantonalen IV-Stellen bereits konkret prüfen, wie eine Zufallsvergabe bei den monodisziplinären Gutachten realisiert werden könnte.»

Dass der Bund schwarze Schafe gewähren lasse, bestreitet Camenzind. «Gutachterinnen und Gutachter, welche die fachlichen Anforderungen nicht erfüllen, werden von den IV-Stellen bereitsheute nicht – beziehungsweise nicht mehr – für weitere Gutachten beigezogen.» Wie viele es sind, sagt Camenzind nicht. «Dazu liegen dem BSV keine Zahlen vor.»

Klar ist: Das BSV und die kantonalen IV-Stellen definieren «schwarze Schafe» anders als viele Ärzte, Psychiater und Behindertenorganisationen.

 

Bestes Beispiel dafür sind Dr.K*.und Dr. L.* aus Bern sowie Dr. G.* aus Basel, über welche SonntagsBlick im November 2019 ausführlich berichtete. Die drei sind bekannt dafür, dass sie selten bis nie eine Arbeitsunfähigkeit feststellen -und genau das scheint sie bei den kantonalen IV Stellen besonders beliebt zu machen.

Dr. K. verdiente zwischen 2012 und 2018 1,9 Millionen Franken mit IV-Gutachen, Dr. G. ebenfalls 1,9 Millionen, Dr. L. sogar 3,1 Millionen Franken.

Neue Zahlen, die SonntagsBlick gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz erhalten hat, zeigen: Auch 2019 machte das umstrittene Trio kräftig Kasse mit IV-Gutachten.Bei Dr. G. kamen 132 000 Franken hinzu, bei Dr. L. 217 000 Franken. Dr. K. kassierte von der IV gar 402 000 Franken für seine psychiatrischen Gutachten.

Ihr Ruf hat sich nicht gebessert.Dennoch sieht das BSV keinen Handlungsbedarf.Camenzind:«Das BSV hat keine stichhaltigen Anhaltspunkte gefunden, die eine Intervention bei den aufgeführten Gutachtern hinsichtlich der Verlässlichkeit ihrer Gutachten als angezeigt erscheinen lassen.» Die aufgeführten Gutachter könnten deshalb nach wie vor für Gutachten der IV beauftragt werden.

«Offensichtlich nehmen die betroffenen Versicherten und die Gerichte die Qualität und Verlässlichkeit von Gutachten einzelner Gutachter sehr unterschiedlich wahr», so Camenzind weiter.

Thomas Ihde (51), Chefarzt der Psychiatrie der Berner Oberländer Spitäler FMI, sieht das Problem an einem anderenOrt: «DerBund will nicht zugeben,dass wir ein massives Problem im IV-Gutachterwesen haben.Stattdessen wird versucht, die Gemüter mit ein paar kleinen Anpassungen zuberuhigen.»


Sozialminister Alain Berset: Werden seine Massnahmen wirken?

 

Ihde fordert ein radikales Umdenken: «Wir sollten uns überlegen, den Versorgungsauftrag der öffentlichen Spitäler auf die medizinische Begutachtung von Versicherten auszuweiten.» Weiter spricht sich Ihde dafür aus, dass Versicherte, die in den vergangenen Jahren Opfer eines unprofessionellen IV-Gutachters geworden sind, erneut beurteilt werden.

Das ist auch eine zentrale Forderung von Petra Hartmann, Präsidentin des Vereins Vergissmeinnicht. Der Verein hat eine Online-Petition lanciert, mit der die Situation von IV Opfern verbessert werden soll. Für Hartmann steht fest:«Die angekündigten Massnahmen des Bundes sind nur Kosmetik!»

*Name der Redaktion bekannt