«EinTeil der Bevölkerung wird übergangen»

(Freiburger Nachrichten)

Wegen der zu tiefen Bahnsteige ist es Rollstuhlfahrern nicht möglich, ohne fremde Hilfe in den Zug von Freiburg nach Murten einzusteigen. Eine Betroffene hat den FN ihre täglichen Schwierigkeiten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gezeigt.


Auf den Gleisen 1, 4 und 5 im Bahnhof Freiburg ist das selbststständige Einsteigen für Rollstuhlfahrer ein Ding der Unmöglichkeit.Bild Alco Ellena

 

Niclas Maeder

FREIBURG Zu den Stosszeiten herrscht am Bahnhof Freiburg dichtes Gedränge. Pendler drücken sich hastig an den anderen Bahnhofsbesuchern vorbei und eilen auf eines der drei Perrons. So auch eine Rollstuhlfahrerin. Gekonnt schlängelt sie sich mit dem elektrischen Rollstuhl durch die Menschenmenge, fährt die Rampe zu den Gleisen hinauf und wartet auf den Zug nach Neuenburg. Der Zug hält, die Frau drückt auf den Türknopf mit dem abgebildeten Rollstuhlfahrer. Eine Rampe überbrückt den Abstand zwischen Perron und Fahrzeug, so dass sie problemlos einsteigen kann.

Ein Besuch am Bahnhof Freiburg zeigt: Die geschilderte Situation ist nicht real. Menschen im Rollstuhl können ohne fremde Hilfe weder nach Murten, noch nach Estavayer-le-Lac fahren, wo es keine Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten für Rollstuhlfahrer gibt. Und dies, obschon die genannten Orte Bezirkshauptorte und somit wichtige kantonale Verkehrsknotenpunkte sind. Die Perrons der Gleise eins sowie vier und fünf sind zwischen 15 und 20 Zentimeter zu tief, damit ein Rollstuhlfahrer barrierefrei einsteigen könnte.

Solchen Zuständen auch im Jahr 2018 noch zu begegnen, stimmt Katharina Kanka traurig. Die Plaffeierin sitzt seit ihrem 26. Lebensjahr im Rollstuhl. «Seit Jahren wird im öffentlichen Verkehr ein Teil der Bevölkerung einfach übergan-gen», meint sie. Es könne doch nicht sein, dass es in der heutigen fortschrittlichen Gesellschaft nicht möglich ist, ein Perron für einen barrierefreien Zugang zum Zug herzurichten. «Die Menschen fliegen zum Mond. Aber die Plattform um zwanzig Zentimeter zu erhöhen, scheint nicht möglich zu sein.» Eine Erhöhung des Perrons in Freiburg wird zwar in Aussicht gestellt, bis dahin werden jedoch noch einige Jahre vergehen.

Umständliche Reiseplanung
Spontane Ausflüge liegen für Rollstuhlfahrer nicht drin. Auf Reisen, bei denen ein Mobilitätshelfer der SBB benötigt wird, muss ein solcher eine Stunde vor Reiseantritt angefordert werden. AufS-Bahn-Strecken sind es bis zu zwei Stunden.

Das Planen einer Reise gestaltet sich auch bei genügend Zeitreserven schwierig. Will ein Rollstuhlfahrer von A nach B und macht sich deshalb im Online-Fahrplan der SBB schlau, muss er zusätzlich den Filter «Barrierefreies Reisen» aktivieren, damit alle rollstuhlgängigen Reiserouten angezeigt werden. Doch dann die Überraschung: Bei einigen Zugverbindungen taucht das Ikon des durchgestrichenen Rollstuhlfahrers auf. Die Beförderung von Rollstuhlfahrern ist auf der gewählten Strecke unmöglich. Betroffen sind die Verbindungen von Freiburg nach Bulle, Estavayer-le-Lac oder Murten. «Ab dem frühen Abend stehen in Freiburg und an anderen Bahnhöfen keine Mobilitätshelfer mehr zur Verfügung», sagt Kanka. «Das ist Diskriminierung pur von Rollstuhlfahrern, die hier leben oder unser schönes Land besuchen wollen.» Der Hintergrund: Ohne Mobilitätshelfer gibt es niemanden, der die gelben mobilen Lifte auf den Perrons bedient, wodurch die Rollstuhlfahrer stranden.

Behinderte in Bittstellerrolle

Katharina Kanka reicht es nun: Sie hat im Frühjahr Bundesrätin Doris Leuthard eingeschaltet, um endlich etwas zu bewirken. Zu lange seien Ausreden gesucht und auch gefunden worden – und das, obwohl das Behindertengleichstel lungsgesetz (BehiG) bereits seit 2004 in Kraft ist. Dieses siehtvor, dass bis 2023 Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung verhindert oder beseitigt werden. «Wir befinden uns in einer Art Bittstellerrolle. Dabei darf laut Verfassung niemand wegen einer Behinderung diskriminiert werden. Es kommt mir manchmal vor, als ob Behinderte selber Schuld wären, dass sie nicht laufen können.» Kanka kennt die Situation der Behinderten in der Schweiz sehr gut – einerseitsweil sie selber im Rollstuhl sitzt, andererseits durch ihr langjähriges Engagement. Sie war Aktivistin in der seit den1970 er-Jahren aktiven Selbstbestimmt- leben- Bewegung und war an der Einführung des Assistenzbeitrags der Invalidenversicherung beteiligt.

Reaktionen

Die Hürden sind den SBB und TPF bekannt
Das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) stellt die öffentlichen Verkehrsbetriebe vor grosse Herausforderungen. Mit Ablauf der Übergangsfrist im Jahr 2023 müssen ein Teil der Bahnhöfe und Bushaltestellen für Menschen mit Behinderung barrierefrei zugänglich sein (siehe Text unten). «Uns ist es ein grosses Anliegen, unseren Passagieren mit Behinderung ein komfortables und sicheres Reisen zu ermöglichen», sagt Aur&ia Pedrazzi von den Freiburgischen Verkehrsbetrieben (TPF). Man arbeite mit Hochdruck am Ziel, bis 2023 alle Bahnhöfe im Kanton Freiburg behindertenkonform herzurichten. «In
Belfaux-Village, Münchenwiler-Courgevaux, Pensier und La Tour-de-Trême Ronclina sind die Perrons konform. Es folgen in den nächsten Monaten die Bahnhöfe von Chätel-St-Denis, Courtepinund Montbovon.»

Finanziert werden die Anpassungsarbeiten nicht vom Kanton, sondern von den Bundesgeldern zur Finanzierung und zum Ausbau der Bahninfrastruktur (Fabi). Unternehmen wie die TPF und die SBB sind somit darauf angewiesen, dass ihnen Gelder zugesprochen werden. Bei der Entscheidung, welche Projekte realisiert werden, spielt das Kosten-Nutzen-Verhältnis eine wichtige Rolle, wie Daniele Pallecchi von den SBB ausführt: «Schweizweit sind momentan über die Hälfte der SBB-Bahnhöfe zu barrierefreien umgebaut worden. Davon profitieren heute bereits 76 Prozent aller Reisenden.» Fällt das Kosten-Nutzen-Verhältnis negativ aus, so ermögliche BehiG sogenannte Ersatzmassnahmen wie die Hilfestellung durch das Bahnpersonal, Faltrampen oder mobile Lifte an den Statonen. «Der Bahnhof Freiburg wird mit dem Jahr 2023 ebenfalls barrierefrei sein.» Die Anpassungen seien hier nicht prioritär gewesen, sagt Pallecchi. «Im Jahr 2017 wurden in Freiburg 1817 Hilfestellungen erbracht, davon 290 im Regionalverkehr. Mit einem täglichen Durchschnitt von weniger als einer Hilfestellung im Regionalverkehr ab den Gleisen 1, 4 und 5 ist der Bedarf in Freiburg unterdurchschnittlich.» Das heisse aber nicht, dass die SBB die Behinderten nicht ernst nehme: Um beim Einstieg in die Züge nach Murten, Estavayer-le-Lac oder Düdingen zu helfen, werde tagsüber ein Mobilitätshelfer aufgeboten. «Die SBB nimmt die Behindertengleichstellung sehr ernst und setzt alles daran, dass Reisende mit eingeschränkter Mobilität die Dienstleistungen der SBB diskriminierungsfrei nutzen können.»

nmm