«Es wäre ein wenig so, wie wenn mein Mann arbeitslos würde»

(Berner Zeitung / Ausgabe Stadt+Region Bern)

Behindertenpolitik Es ist der grösste Pilotversuch im Kanton: Rund 700 behinderte Personen testen seit mehreren Jahren ein neues Finanzierungsmodell. Jetzt will der Kanton aber die Kosten senken. Für die Betroffenen könnte das einschneidende Folgen haben.

Marius Aschwanden

In der Nacht beginnt das Kopfkino. Was, wenn der Kanton plötzlich nichts mehr bezahlt? Wie stark müssten wir dann unseren Lebensstandard anpassen? Und was hiesse das für die Privatschule, in die unser Sohngeht? Solche Fragen plagen Oliana Ly (45) immer wieder. Sie lebt mit ihrem Mann Daniel und den beiden Kindern (5 und 7) in Thun- und ist auf Betreuung angewiesen. Die Mutter hört nichts und leidet unter einer Bewegungsstörung. Deshalb wird sie vom Kanton mit monatlich maximal 2500 Franken unterstützt. Ein Drittel davon bezahlt sie ihrem ebenfalls gehörlosen Mann Daniel(49), der sie zu Hause betreut.

Wie lange das allerdings noch so bleibt, ist ungewiss. Denn der Kanton überarbeitet derzeit die neue Behindertenfinanzierung.«Wenn wir weniger Geld bekommen, dann müssen wir schauen,wie wir unser Leben neu organisieren können», schreibt Oliana Ly in einer von vielen Mauls. Es wäre ein wenig so, wie wenn ihr Mann arbeitslos würde.

Riesiger Pilotversuch

Oliana Ly ist eine von rund 700 Personen im Kanton Bern, die bereits heute nach dem neuen System der Behindertenfinanzierung abrechnen. Sie alle sind Teilnehmer eines riesigen Pilotversuchs, der 2016 mit einer Handvoll Personen startete und seither stetig erweitert wurde. An ihrem Beispiel wollte die Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) testen, ob der Systemwechsel machbar ist.

Grundsätzlich erhalten künftig nicht mehr die Heime Geld,sondern die Personen je nach persönlichem Betreuungsbedarf eine Gutsprache. So können sie selber bestimmen, ob sie in einer Institution leben wollen oder zu Hause mithilfe von Assistenzpersonen oder Angehörigen.

Vor einem Jahr aber erlitt das Projekt einen massiven Dämpfer. SVP-Fürsorgedirektor Pierre Alain Schnegg kam in einer Zwischenanalyse zum Schluss: Bevor die definitive Einführung erfolgen kann, sind grundlegende Änderungen notwendig. Ansonsten laufen die Kosten aus dem Ruder. Im Sommer wurde dann bekannt, dass an der Wahlfreiheit zwar nicht gerüttelt werden soll. Das aktuelle Abklärungsinstrument des Betreuungsbedarfs wird jedoch fallen gelassen. Und die prognostizierten Mehrkosten müssen von 100 auf 20 Millionen Franken gesenkt werden. Ohne Abstriche geht das nicht.

Während die Behindertenorganisationen seither eine schrittweise Abkehr vom ursprünglichen Modell befürchten,blieb bei den Teilnehmern des Pilotprojekts vor allem eines zurück: die bange Frage, was das alles für sie bedeutet.

Kehrtwende notwendig

Als sich Oliana Ly vor über drei Jahren für den Pilot angemelde hatte, überwog die Freude über die neuen Möglichkeiten. Damals erhielt sie lediglich eine Invalidenrente und Ergänzungsleistungen. Nach der Abklärung durch den Kanton konnte sie neu Assistenzpersonen anstellen, die sie im Haushalt oder bei der Kinderbetreuung unterstützt haben.Und sie konnte ihrem Mann einen Lohn bezahlen für seine Betreuung.

Doch schon rasch zeigten sich auch bei Lys erste Probleme.Ende 2016 schrieb Oliana Ly in einer Mail, dass sie insbesondere ihre neue Rolle als Arbeitgeberin oder die administrativen Arbeiten an ihre Grenze bringen würden. Schliesslich entliess sie deshalb die Assistenzpersonen.Grundsätzlich sei die Wahlfreiheit aber eine gute Sache, doch das System müsste massiv vereinfacht werden, fand Ly damals.

Insofern blickt ihr Mann Daniel Ly den im Sommer vom Kanton angekündigten Änderungen auch positiv entgegen. «Mit dem früheren Abklärungsinstrument hat der Kanton etwas geschaffen,das in der Komplexität noch einmal eine Grössenordnung weitergeht als die sowieso schon komplizierten Sozialversicherungen», schreibt er heute. Darum finde er es gut, dass nun eine Kehrtwende versucht werde.

Gleichzeitig ist auch der Ehemann beunruhigt und befürchtet, dass seine Frau dereinst weniger oder gar kein Geld vom Kanton mehr bekommt. Glücklicherweise habe die GEF vorerst aber eine Besitzstandswahrung ausgesprochen.

Selbstkritik beim Kanton

Diese Besitzstandswahrung betonen auch Astrid Wüthrich und Peter Seiler, wenn sie über die 700 Teilnehmer des Pilotprojekts sprechen. «Für sie ändert bismindestens 2023 nichts», sagt der interimistische Leiter der Systemumstellung bei der GEF.

«Wir haben Tatsachen geschaffen, die wir teilweise nicht werden einhalten können. Und das tut uns leid.»
Astrid Wüthrich
Amtsvorsteherin

Dann soll die Umsetzung des neuen Behindertenkonzepts tatsächlich vonstattengehen – zwei Jahre später als ursprünglich geplant. Das bedeutet aber auch,dass ab 2024 bei den Pilotteilnehmern der Unterstützungsbedarf mit einem neuen Abklärungssystem eruiert wird. Und dann könnte es für manche zu einschneidenden Änderungen kommen.

So kann Amtsleiterin Astrid Wüthrich nicht ausschliessen,dass künftig weniger Geld für die Betreuung von Angehörigen eingesetzt werden kann. Zudem ist geplant, einen Maximalbedarf einzuführen. «Als Referenzwert könnte ein teurer Heimplatz dienen», sagt Seiler. Sprich: Mehr Geld gibt es einfach nicht. Auchnicht für eine Betreuung zu Hause. Zur Erinnerung: Das Ziel ist,die Mehrkosten von 100 auf 20 Millionen Franken runterzubringen.

«Wenn wir weniger Geld bekommen,dann müssen wir schauen, wie wir unser Leben neu organisieren können.»
Oliana Ly
Teilnehmerin Pilotprojekt.

«Wir sind uns der Unsicherheiten sehr wohl bewusst, die wir dadurch bei den Pilotteilnehmenden auslösen», sagt Wüthrich. Wenn seit drei Jahren jeden Monat eine bestimmte Summe Geld vom Kanton zur Verfügung stehe, verliere man mit der Zeit das Gefühl, in einem Versuch zu stecken. Gleichzeitig sei von Beginn an klar gewesen, dass es ein Pilot sei und es zu Änderungen kommen könne.

Wüthrich gibt sich aber auch selbstkritisch. «Wir haben Tatsachen geschaffen, die wir teilweise nicht werden einhalten können. Und das tut uns leid.»Das Abklärungsinstrument sei am Anfang schlicht noch nicht ausgereift gewesen und die Anzahl Teilnehmer viel zu hoch angesetzt worden. «Ich hätte den Pilot wahrscheinlich anders organisiert.»

Doppelt so teuer

Trotzdem ist für Daniel Ly klar:Er würde seiner Frau erneut empfehlen, am Pilot teilzunehmen. «Wir haben viel gelernt,und für uns hat sich so ein Zusatzverdienst ergeben.» Er sei sowieso ein Optimist und sehe das Glas halb voll. «Immerhin durften wir während einiger Jahre vom neuen Modell profitieren,egal, wie es nun weitergeht.»Seiner Frau habe er zudem immer gesagt, dass vermutlich noch kräftig am Systemwechsel «herumgeschnippelt» werde.

Noch schwieriger als für Lys ist die Situation momentan für Personen, die ihr ganzes Leben wegen des Pilots auf den Kopf gestellt haben. Denn im geschützten Rahmen des Versuchs gab es die von der GEF angekündigte Obergrenze noch nicht. Das führte teilweise zu «sehr aufwendigen privaten Settings», wieder Kanton in einer Vorstossantwort schreibt. Was das konkret heisst, führt die Amtsleiterin aus.«In einem Fall kündigte ein Vater seine Stelle, um mit den verfügbaren Mitteln das Kind aus dem Heim zu nehmen und neu daheim zu betreuen.» So entstanden Situationen, die den Kanton pro Monat über 20 000 Franken kosten – rund doppelt so viel wie die teuersten Heimplätze.


Seit drei Jahren im Pilotprojekt: Oliana Ly ist wegen ihrer Behinderung auf Unterstützung durch ihren Mann Daniel angewiesen. Foto:Nicole Philipp

 

«Solche Betreuungsformen werden künftig wahrscheinlichnicht mehr möglich sein», sagt die Amtsleiterin. Glücklicherweise seien nicht sehr viele Familien betroffen. Konkreter wird Wüthrich nicht. Und was genau mit ihnen geschieht, wenn die Besitzstandswahrung abläuft, ist ebenfalls noch unklar. «Wir werden versuchen, eine gute Lösungzu finden.»

Kein Gleichgewicht

Die Schuld an der aktuellen Situation sieht Peter Seiler nicht bei der aktuellen Equipe in der GEF. Schliesslich übernahmen sie das Projekt von Pierre Alain Schneggs Vorgänger Philippe Perrenoud (SP). Neben dem Wechsel an der Spitze kam es auch im Amt zu Abgängen. Sowohl der ursprüngliche Projektleiter als auch der frühere Amtsleiter verliessen die Verwaltung in der Umsetzungsphase.

«Hätten wir früher reagierensollen? Diese Frage kann man stellen», sagt Seiler. Der Zug sei aber am Fahren gewesen, als die heutige Crew übernommen habe.«Wir sind die Sache rasch angegangen und haben als Erstes diefinanziellen Konsequenzen überprüft.» Das hätte man seiner Meinung nach schon viel frühertun sollen. Laut Wüthrich kannibalisieren sich auch die Ziele des Projekts gegenseitig: Finanzierbarkeit, Wahlfreiheit, Steuerbarkeit. «Zu Beginn hat man zu stark auf die Wahlfreiheit fokussiert und zu wenig auf die beiden anderen Punkte. Jetzt wollen wir einen guten Kompromiss finden.»

Durchlüften

Und die Familie Ly? «Wir versuchen, mit der Situation locker umzugehen», schreibt Daniel Ly.So ganz gelingt den Lys das abernicht. Aus Angst vor einer finanziellen Veränderung würden sie derzeit etwa nur für eine kurze Zeit im Voraus planen. «Zum Beispiel wissen wir nicht, ob wir unseren Sohn 2024 aus der Privatschule nehmen müssen.»Denn das Schulgeld können die beiden nur dank dem Zusatzverdienst von Daniel Ly bezahlen.Eine private Schule sei aber die beste Lösung, weil der Sohn unter Autismus leide.

Oliana Ly habe deshalb auch schon darüber nachgedacht, eine Arbeit zu suchen. Mit ihrer Behinderung dürfte das aber so gutwie aussichtslos sein. Sollte es trotzdem gelingen, würde es zudem bedeuten, dass ihre Invalidenrente gekürzt würde. «Und wir wären wieder auf Platz eins»,schreibt sie. Sie müsse jetzt einfach versuchen, die Unsicherheit auszuhalten und ihre Sorgen loszulassen, so Ly.
Rausgehen, durchlüften. Das helfe tagsüber. Nachts nimmt sie das Kopfkino wieder gefangen.