Freiheit liegt im Bereichdes Möglichen

(Sozial Aktuell)

Entscheidungen und Bedingungen auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben
Text: Benoit Rey

Die Bedürfnisse müssen möglichstpräzise geklärt werden

Damit körperlich behinderte Menschen bei der Wahl ihresWohnorts zwischen einem Heim und dem Leben zu Hause wählen können, brauchen sie Beratung und Begleitung: beim Entscheidungsprozess wie auch im Alltag selbst. Denn frei wählen kann man nur zwischen Bekanntem, das im Bereichdes Möglichen liegt.

Jeder Mensch, der seine Kindheit und Jugend hinter sichlässt, entwirft einen persönlichen Lebensplan, wagt sichin die Unabhängigkeit, wählt eine Arbeit, dank der er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, sucht und baut sichein Nest, beschliesst, alleine oder mit einem Partner odereiner Partnerin, in einer WG oder einer Wohngruppe zu leben. Wie kann der Lebensplan eines Menschen mit Behinderung aussehen, der hin und hergerissen ist zwischender Sicherheit, die ein Heim bietet, und dem mit Risikenverbundenen, selbstbestimmten Leben zu Hause? Liegendiese Varianten für ihn überhaupt im Bereich des Möglichen?

Gemäss Artikel 19 des UNO-Übereinkommens über dieRechte von Menschen mit Behinderung haben auch sie dasRecht, ihren Aufenthaltsort frei zu wählen. Damit diesaber tatsächlich so ist, müssen Alternativen real verfügbarsein. Die Rolle der Familien, die sich um die emotionaleund materielle Unterstützung gekümmert haben, bleibt fundamental- sei dies als Ergänzung zur Betreuung ineiner Institution oder als pflegende Angehörige, die einselbstständiges Leben erst möglich machen.

Seit Jahrzehnten gibt es zahlreiche Heime und Werkstät-ten, die ihre Angebote laufend weiterentwickeln, um optimal auf individuelle Bedürfnisse eingehen und ihre Dienstleistungen den unterschiedlichen Behinderungenanpassen zu können. Sie bieten einen schützenden Rah-men für Menschen mit Behinderung und erlauben es, Schwierigkeiten anzugehen, mit denen diese konfrontiert sein können. Solche stationären Einrichtungen sind somitmögliche Wohnformen, sofern genügend Plätze verfügbar sind.

Die Alternative, die ebenfalls im Bereich des Möglichenliegt, ist das selbstbestimmte Leben zu Hause. Diese konkretisiert sich dank Bewegungen, die Ende des 20. Jahrhunderts in den USA entstanden sind und das Recht aufAutonomie einfordern. Das Leben zu Hause bedingt abergewisse unterstützende Massnahmen. Die Sozialberatungvon Pro Infirmis hilft Personen, die sich für diese Wohn-form interessieren. Im Zentrum stehen dabei das sozialeSystem der Klientlnnen, ihre Probleme und Bedürfnisse.Ziel dieser systemischen Beratung ist es, die Ressourcender Menschen zu nutzen und durch solche von Dritten zuergänzen sowie ihre Fähigkeiten im Sinne eines Empowerments zu stärken und auf diese Weise ihre Autonomie undInklusion zu fördern.

Begleitmassnahmen für ein autonomes Leben entwickeln

Es gibt je nach Zeitpunkt unterschiedliche Arten von Begleitmassnahmen. In einer ersten Phase sind Massnah-men gefordert, die auf die unmittelbare Lebenswelt unddas nächste Umfeld einwirken. Sie sollen die Kompetenzenund das Potenzial des Menschen mit Behinderung fördern,damit er die Anforderungen eines selbstständigen Lebensim Alltag meistern kann. Der Erwerb von Wissen undKompetenzen ist ein Bildungsprozess, der unterschiedliche Formen annehmen kann. Um diesen unterschiedlichen Formen Rechnung zu tragen, hat Pro Infirmis mit Wohnschulen, mit Angeboten für begleitetes Wohnen so wie mit Bildungsklubs verschiedene Angebote entwickelt.Wohnschulen bieten eine zeitlich begrenzte stationäreStruktur für Erwachsene, die sich die nötigen Kenntnisseund Fähigkeiten aneignen möchten, um später in einereigenen Wohnung zu leben. Sie lernen, alltägliche Aufgaben zu erledigen und ein möglichst selbstständiges Lebenin ihren eigenen vier Wänden zu führen. Nach dieser Ausbildung wird für jede Person die optimale Wohnform ermittelt.

Begleitetes Wohnen richtet sich an Menschen, die in einereigenen Wohnung leben. Dabei handelt es sich um eine individuelle Begleitung, die unterstützt, um den Alltag bes-ser bewältigen zu können, sofern diese Unterstützungnicht von einer Person aus dem persönlichen Netzwerk erbracht werden kann. Die Begleitperson gibt Ratschläge,hilft bei der Planung von Aktivitäten, unterstützt beim Erwerb von neuen Fähigkeiten, übernimmt aber keineAufgaben von der begleiteten Person. Unterstützung wirdin den Bereichen Haushalt, Finanzen, Arbeit, Freizeitorga-nisation sowie Umgang mit sich selbst und anderen angeboten.

Bildungsklubs organisieren Kurse, die auf den neusten Er-kenntnissen der Erwachsenenbildung auftauen. Die Kursteilnehmerinnen sollen ihre Fähigkeit zur Selbstbestim-mung und Teilhabe erweitern und lernen, mehr Verant-wortung zu übernehmen. Ein weiteres Ziel besteht darin,die soziale Integration zu erhalten oder zu fördern.

Nachdem mittels dieser Angebote die erforderlichenKenntnisse und Kompetenzen erworben wurden, müssenje nach Situation zusätzliche Hilfeleistungen in den Be-reichen Pflege, Haushaltsarbeiten, Mobilität und Überwachung organisiert werden. Ihre Finanzierung wirddurch eidgenössische und kantonale Bestimmungen er-möglicht, die einen rechtlichen und regulatorischen Rahmen bilden. So konnte beispielsweise 2012 der Assistenzbeitrag eingeführt werden, der vor allem für Menschenmit einer körperlichen Behinderung gedacht ist. Aber auch andere Massnahmen der Ergänzungsleistungen, der Hilf-losenentschädigung und weitere finanzielle Leistungen basieren auf diesen Bestimmungen.

Bedürfnisse klären, Unterstützung organisieren

Ein unterstützendes Netzwerk für ein Leben in den eigenen vier Wänden aufzubauen, ist oft ein umfangreichesund komplexes Vorhaben. Zunächst müssen die Bedürfnisse möglichst präzise geklärt werden: «Welche Hilfe benötige ich? Wann? Für welche Aufgaben? Von einer Personmit welchen Kompetenzen?» Dabei geht es nicht nur umdie Definition der benötigten Hilfe zu Hause, sondern auchum komplexere Bedürfnisse, die mit der Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben zusammenhängen. Verschie-dene Instrumente stehen für die Ermittlung dieses Bedarfszur Verfügung. Die IV-Stellen, die über die Gewährung desAssistenzbeitrags entscheiden, nutzen dafür das sogenannte FAKT-Formular. Dieses weist aber gewisse Lückenauf, vor allem für Jugendliche (Minderjährige) und Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Ebenso fehlt eineausreichende Berücksichtigung des Engagements der Angehörigen. Pro Infirmis hat deshalb ein eigenes Tool entwi-ckelt, das diese Abklärung ergänzt.

Die Organisation eines Lebenszu Hause für Menschen mitBehinderung ist komplex undeine echte Herausforderung

Nachdem die Bedürfnisse ermittelt sind, muss die geeignete ambulante Unterstützung organisiert und umgesetztwerden. Das heisst: Einsätze der persönlichen AssistentInnen planen, geeignetes Personal suchen und anstellen, Ersatz organisieren und vieles mehr. Diese schwierige Auf-gabe erfordert sehr häufig professionelle Unterstützung. Inden Bestimmungen zum Assistenzbeitrag ist vorgesehen,dass sich Menschen, die sich auf das Abenteuer eines unabhängigen Lebens einlassen wollen, fachlich beraten las-sen können. Dazu braucht es spezialisierte Beraterinnen,die diese Menschen in ihrer Rolle als Arbeitgeberinnen unterstützen und ihre Fragen zur Anstellung von persönlichen Assistentinnen beantworten. Auf diese Weise unter-stützt Pro Infirmis gegenwärtig über 1000 Personen.

In einer Umfrage, die 2016 bei 707 dieser Klientlnnendurchgeführt wurde, gab eine Mehrheit an, dass diese Dienstleistung sehr gut funktioniere und sie sich dank ihrin ihrer Rolle als Arbeitgeberinnen wohlfühlen. Als häufigste Schwierigkeiten wurden die Suche nach persönlichen Assistent Innen und die Bewältigung der Administration genannt. Aus der Umfrage ging zudem hervor, dassdie Rolle der pflegenden Angehörigen entscheidend bleibt,vor allem nachts. Es gilt, diesen Punkt unbedingt zu beachten und auch das Umfeld zu unterstützen.

Umsetzen und eine Balance finden

Nachdem die individuelle Organisation geregelt ist, bedarfes einer zweiten Phase von Massnahmen. Massnahmen,die die Umgebung für alle zugänglich machen und dadurch die Inklusion von Menschen mit Behinderung ermöglichen. Um selbstständig leben zu können, muss manaus dem Haus gehen können. Man muss mobil sein, zurArbeit oder zu einer Beschäftigung gehen können und Zugang zu Kultur, Sport und Freizeit haben. Um eine solcheUmgebung zu fördern, verfügt Pro Infirmis über Fachstellen für hindernisfreies Bauen: Dort analysieren spezialisierte Architektlnnen konkrete Bau- oder Umbauprojekte.Verkehr, Mobilität, hindernisfreie Bauten, Zugang zu Information, Bildung und Arbeit: In all diesen Bereichen musszur Sensibilisierung und Umsetzung der nötigen Massnahmen noch viel Arbeit geleistet werden. Das Ideal einerbarrierefreien Gesellschaft ist noch weit entfernt. Das En-gagement von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ist eineder Grundvoraussetzungen, damit die Gesetzgebung an-gepasst wird und die notwendigen finanziellen Mittel zurVerfügung gestellt, Hilfsstrukturen gefördert, Bauten um-gestaltet und angepasste Arbeitsplätze angeboten werden.Die Organisation eines Lebens zu Hause für Menschen mitBehinderung ist komplex und eine echte Herausforderung.Dabei geht es auch darum, die richtige Balance zwischeneiner unverzichtbaren, effizienten, aber diskreten Unterstützung und dem Respekt der Autonomie der betroffenenPersonen und ihres Rechts auf Selbstbestimmung zu finden. Dank der Umsetzung all dieser Massnahmen kannletztlich die freie Wahl zwischen einer umfassenden Be-treuung im gesicherten Rahmen einer Institution und einem Leben in den eigenen vier Wänden möglich sein. Erstdann ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zurGleichstellung erreicht. Erst dann gibt es die freie Wahlzwischen zwei Alternativen, die beide im Bereich des Möglichen liegen.