«Für Familien ist die Situation unhaltbar»

(St. GallerTagblatt / St. Gallen-Gossau-Rorschach)

Weder in den beiden Kantonen Appenzell noch im Thurgau finden Kinder mit Beeinträchtigungen spezielle Betreuungsangebote.

Janina Gehrig und Hans Suter

6750 Kinder im Alter von 0 bis 4 Jahren leben in der Schweiz mit einer leichten Behinderung, 2250 mit einer schweren. Für diese einen Kitaplatz zu finden, gestaltet sich alles andere als leicht. In vielen Kantonen fehlen entsprechende Angebote, was dazu führt, dass die Eltern die Kinder häufig selber betreuen müssen. Sie sind oft von Langzeitarbeitsloskigkeit und Altersarmut betroffen (Tagblatt vom 21. Oktober).

In der Ostschweiz gestaltet sich die Situation sehr uneinheitlich. Während in beiden Kantonen Appenzell keine offiziellen Angebote bestehen, gibt es im Kanton St. Gallen – wie etwa auch in Luzern, Uri, Nidwalden – das Kitaplus-Projekt, das die Betreuung von Kindern mit leichten Behinderungen in regulären Kindertagesstätten ermöglichen soll. Derzeit werden in St. Gallen rund 40 Kinder in einer Kitaplus-Tagesstätte betreut. Das Projekt wurde von den kantonalen Behörden, Pro InfirmisSt. Gallen-Appenzell und den entsprechenden Fachstellen lanciert.

Das Problem: «Es ist ein Flickenteppich. Die Gemeinden sind zuständig, und je nachdem, wo man wohnt, trifft man bezüglich Finanzierung der behinderungsbedingten Mehrkosten eine andere Situation an», sagt Alex Fischer, Leiter Sozialpolitik von Procap Schweiz, dem Verband für Menschen mit Behinderung. Ein weiteres Problem: Es besteht kein einheitliches Finanzierungssystem für die behinderungsbedingten Mehrkosten. Und das Kitaplus-System funktioniert nicht für jene 25 Prozent der Kinder, die von schwereren Behinderungen betroffen sind.

Schweizweit würden rund 80 spezialisierte Kitas benötigt werden, wo jene zusammen mit gesunden Kindern betreut werden. Nur eine davon gibt es im Kanton St.Gallen, nämlich die Kindertagesstätte Peter Pan von der Stiftung Kronbühl in Wittenbach.

Doppelt so teuer wieein regulärer Kitaplatz

Rund 30 Kinder werden dort betreut, die Hälfte von ihnen hat Beeinträchtigungen, etwa körperlich schwerere Einschränkungen, braucht Medikamente oder leidet unter Autismusspektrumstörungen und würde vom Verhalten her in regulären Kitas den Rahmen sprengen, sagt Marcel Koch, Gesamtleiter der Stiftung Kronbühl. Da die Kinder teils eins zu eins von Betreuungs- und auch von Pflegefachpersonen betreut werden müssen, kostet ein Kitaplatz doppelt so viel wie ein regulärer. Die Mehrkosten sollen jedoch nicht auf die Eltern abgewälzt werden. Auch wenn der Kanton eins bis zwei weitere Angebote dieser Art gebrauchen könne, sagtKoch: «Das Hauptproblem ist nicht die Warteliste, sondern die Frage der Finanzierung. Bisher hat der Kanton nicht genug getan.» So belaufen sich die Kosten für die Kinderbetreuung auf rund 400 000 Franken jährlich. Die 20 000 Franken, die der Kanton bezahle, seien ein Tropfen auf den heissen Stein. Das Defizit von 100 000 Franken müsse von der Stiftung Kronbühl und weiteren privatenSpenden getragen werden.

Auch Alex Fischer sagt: «Peter Pan deckt nicht den kantonsweiten Bedarf, und auch für schwerer beeinträchtigte Kinder fehlt ein kantonal einheitliches Finanzierungssystem.»

Weitere Kita in Rapperswil geplant

Beim Kanton ist das Problem erkannt worden. «Es ist stossend, dass es zu wenig Plätze gibt für Kinder mit Behinderungen. Für Familien, die berufstätig sein wollen, ist die Situation unhaltbar», sagt Sozialdirektorin Laura Bucher.

Man habe Vorabklärungen getroffen um das «Gesetz über die soziale Sicherung und Integration von Menschen mit Behinderung» zu ändern. Angedacht sei, in einem Teilprojekt die Finanzierung von behinderungsbedingten Mehraufwänden in der Kinderbetreuung von 0 bis 4 Jahren anzuschauen und Optimierungspotenzial zu eruieren.

Auch laut Fischer ist Besserung in Sicht. So hat die Stiftung Balm in Rapperswil das strategische Ziel, eine weitere Kita für Kinder mit schwereren Behinderungen auf die Beine zu stellen. Es stellten sich jedoch noch viele Fragen zur Umsetzung, insbesondere sei die Finanzierungsfrage noch nicht geklärt.

Keine spezifischen Angebote im Thurgau

Weit weniger weit ist man im Kanton Thurgau. Dort gibt es laut Procap keine spezifischen Betreuungsangebote für Kinder mit leichten oder schwereren Behinderungen im Vorschulalter. Zudem existiert kein einheitliches kantonales Konzept, wie solche Kinder in familienexterne Betreuungsangebote integriert werden könnten. Ebenso wenig gibt es ein einheitliches System zur Übernahme der behinderungsbedingten Mehrkosten.

Christian Schuppisser, Leiter der Pflegekinder- und Heimaufsicht des Kantons Thurgau, bestätigt diesen Sachverhalt, wenngleich es einige Angebote privater Anbieter wie der Pro Infirmis Schaffhausen-Thurgau gebe. Fragt sich, warum das so ist. Im Thurgau ist die Antwort so simpel wie komplex. «Für die Bedarfserhebung und Förderung der Kinder im Vorschulalter sind die Gemeinden zuständig», sagt Schuppisser. Die Kitas im Thurgau sind daher meistens privat organisiert.

Zudem besteht für die 80 Thurgauer Gemeinden keine gesetzliche Verpflichtung, finanzielle Beiträge an die Kitas zu leisten, sie sind autonom. Bei Kindern mit schwereren Behinderungen ist laut Procap überdies davon auszugehen, dass die Voraussetzungen in einer regulären Kindertagesstätte und/ oder Tagesfamilie oft nicht gegeben sind, um eine sichere Betreuung zu gewährleisten. Wie viele Kitas Kinder mit Beeinträchtigung betreuen, ist unklar. Laut Christian Schuppisser werden die Kitas im Thurgau derzeit
dazu befragt.

Kinderspitex Ostschweiz würde Hand bieten

Wie aktuell ist diese Problem-stellung bei den Gemeindepräsidenten? «Im Verband Thurgauer Gemeinden ist das zurzeit kein Thema», bestätigt VTG- Präsident Kurt Baumann auf Anfrage.

Ein grosses Thema ist es hingegen für Thomas Engeli aus Horn. Als Vater eines behinderten Sohnes hat er vor mehr als 20 Jahren den Verein Kinderspitex Ostschweiz gegründet, um betroffenen Eltern mangels öffentlicher Angebote eine Entlastung an Abenden, Wochenenden oder für Ferien zu bieten. Er hält fest: «Der Bedarf ist da, die Betreuung aber anspruchsvoll. Anderseits fehlt der Impuls, dass jemand die Initiative ergreift, um die Situation für Eltern von Vorschulkindern mit Beeinträchtigung zu verbessern.» Thomas Engeli würde bei einem Vorstoss jederzeit Hand bieten: «Wir haben die Kernkompetenz, das Fachpersonal und den Willen.»


Kinder mit Beeinträchtigungen brauchen mehr Betreuung und Pflege – nur wenige Institutionen bieten das. Bild: Getty