Für sich selber reden

(Ostschweiz am Sonntag)

von Kaspar Enz
Was für Menschen mit Behinderung gut ist, entscheiden zu oft Fachleute für sie.
Im HPV Rorschach haben sie selber eine Stimme – in Form einer gewählten Vertretung


Fachstellen-Mitarbeiterinnen Manuela Breu (2. von links) und Nusejba Fetal (2. v. r.) und das Selbstvertreterteam (v. I.): Sara Nunes, Andrea Fitze und Sebastian Stäuble. Bild: Mareycke Frehner

 

Gemeinsam nach Lösungen suchen, Ideen und Wünsche seiner Wähler umsetzen: Das versprach Sebastian Stäuble vor der Wahl im Herbst 2017 den Stimmberechtigten. Den Menschen mit Beeinträchtigungen, die im «Dörfli» oder den Aussenwohngruppen des HPV Rorschach wohnen oder in einer der Werkstätten arbeiten, wie Stäuble selber. Und bald nach der Wahl machte er sich an die Arbeit.

Jeden Dienstag treffen sich die vier gewählten Mitglieder des Selbstvertretungsteams, um ihre Anliegen und die der anderen Bewohner und Mitarbeiter zu besprechen. «Manchmal bekomme ich Anregungen, jemand sagt mir etwas. Dann bringe ich es in die Sitzung.» In den letzten Monaten war die Mittagspause das wichtigste Thema. Zu kurz sei sie für viele. «Auch mir sagten einige, sie könnten nicht so schnell essen», sagt Teamkollegin Andrea Fitze. So machten sich die Selbstvertreter an die Arbeit.

Im HPV Rorschach sollen Menschen mit Behinderungen möglichst selbstbestimmt leben und arbeiten können, so lautet eines der Ziele der Institution. Die Idee der Selbstvertretung ist ein Mittel, dies zu erreichen: Sie sollen selber mitreden können.

Die Anfänge reichen im HPV schon länger zurück: Die Gruppe «Wir für uns» gibt es seit 2008. Bald kamen weitere Räte hinzu. Um diese Bewegungen zu unterstützen, wurde 2015 eine Fachstelle eingerichtet. Kürzlich wur de sie von der Fachhochschule St. Gallen ausgezeichnet. Das Selbstvertretungsteam, in dem Werkstatt-Mitarbeiter wie Bewohner vertreten sind, war der nächste Schritt. Die Idee der Selbstvertretung ist aber viel älter. «Die Bewegung entstand in den 1970er-Jahren», sagt Manuela Breu, die die Fachstelle leitetDarüber, was Menschen mit Behinderungen brauchen, reden Fachleute schon lange. «Aber meist untereinander statt mit den Menschen, um die es geht. Und damit oft an ihnen vorbei.»

So nahm sich das erste Selbstvertretungs-Team, von 2016 bis 2017 im Amt, die Kaffeemaschinen vor. «Leute im Rollstuhl kamen nicht ran, sie hing zu hoch. Und wer schlecht sehen oder lesen kann, hatte auch Mühe», sagt Sebastian Stäuble. Im Hauptgebäude steht nun ein Prototyp einer Maschine, die leichter zu bedienen ist. «Es fängt schon bei so kleinen Dingen an», sagt Breu. «Auch der Eingang zur Geschäftsstelle ist noch nicht barrierefrei zugänglich.»

Dass die Menschen mit Behinderung für sich selber reden, ist aber manchmal leichter gesagt als getan. «Es gibt ja Leute, die gar nicht reden können», sagt Selbstvertreterin Sara Nunes. «Man muss erst lernen, wie man sie versteht.» Das trifft auch auf ein Teammitglied zu, das per Sprachcomputer kommuniziert. Ein Grund, weshalb Manuela Breu die Selbstvertreter unterstützt. Oft müsse sie übersetzen: den juristischen Jargon von Statuten oder Gesetzen in einfache Sprache zum Beispiel. Nur so wird klar, wer was entscheidet, an wen man sich wenden muss.

Neue Lösung entdeckt

Beim Thema Mittagessen war die Gruppe gründlich. Bewohner und Mitarbeiter bekamen bald einen Fragebogen zum Thema. Das Resultat überraschte die Selbstvertreter. «Es gab schon viele, die Mittagspause zu kurz fanden», sagt Stäuble. Aber es war nicht die Mehrheit. Viele orteten das Problem woanders: Die Standorte des HPV sind über Rorschach verteilt, das Mittagessen findet meist im Dörfli statt, ein gutes Stück von den Werkstätten entfernt. So entstand ein neuer Lösungsansatz: «Es wäre gut, wenn es ein zweites Mittagsbuffet gäbe, hier bei der Werkstatt.» So wäre die Kantine über Mittag auch nicht mehr so voll. Laut Umfrage würde das viele freuen. «Nächstens haben wir einen Termin mit der Küche, dann besprechen wir, ob sich das machen lässt.» Klare Bestimmungen darüber, was die Gruppe darf und wie viel sie zu sagen hat, fehlen allerdings. «Das ist noch ein Experiment», sagt Manuela Breu. «Auch für die Geschäftsleitung.»

«Meistens versucht man, Lösungen zu finden», sagt Sebastian Stäuble. «Aber bei der Erwachsenenbildung sind wir noch nicht so weit.» Möglichst viele Mitarbeiter und Bewohner sollen jede Woche in diese Kurse gehen können. «Es gibt zwar eine Klasse mehr, aber viele können nur alle zwei Wochen gehen.» Gut möglich, dass das Thema noch einmal aufs Tapet kommt. Für drei Jahre ist das aktuelle Team gewählt. Und zumindest Sebastian Stäuble ist ziemlich sicher, dass er die Wiederwahl wagt. «Die Selbstvertretung macht mir Spass, ich möchte das weiterverfolgen.» Ähnlich sieht das Sara Nunes. «Ich lerne hier auch etwas. Und ich kann etwas beitragen. Mut machen, sich zu wehren.»

Schweiz im Rückstand Die Selbstvertretung fordert, dass Menschen mit Behinderungen für sich selber einstehen. In der Schweiz sei man damit noch etwas im Rückstand, sagt Manuela Breu. Allerdings habe die UNO-Konvention über Behindertenrechte der Bewegung etwas Schub gegeben. Immer mehr Institutionen führen einen Rat für Bewohner oder Mitarbeiter ein. Eine Fachstelle für Selbstvertretung führt in der Ostschweiz auch Pro Infirmis. Diese gibt unter anderem Menschen mit Beeinträchtigungen das nötige Rüstzeug, um für die eigenen Interessen einzustehen.(ken)