Gar nicht mal so leicht, die Leichte Sprache

(Bieler Tagblatt)

Lesen Biel spielt mal wieder eine Vorreiterrolle. Diesmal darin, Bücher in «Leichter Sprache,» an den Mann und die Frau zu bringen.Die Stadtbibliothek stellt ihr Pilotprojekt demnächst vor. Doch der Weg zu wirklich leicht verständlicher Sprache ist steinig.

Clara Gauthey
Ziemlich viele Menschen haben einProblem mit diesen blöden Schachtelsätzen. Mit diesem gestelzten Genitiv. Mitden nicht enden wollenden, unaussprechlichen Wörtern wie «Motorfahrzeughaftpflichtversicherung». Mit der Typografie der Serifenschriften wie Sie sie hier in Ihrer Tageszeitung immerwieder finden – ausser in den Todesanzeigen. Und mit den stets randvoll gefüllten Zeilen, der schier unleserlichen Füllean Buchstaben.

Manche Leute, vermutlich mehr, als eszugeben, verstehen die Welt nicht mehr ganz. Das reicht vom Strassenschild inBeamtensprache über Gesetzesparagrafen und Wahlunterlagen bis hin zur Tageszeitung oder dem neuen Buch von XY. Und logischerweise fühlt sich dabeimanch einer, genauer, jeder sechste Leser oder Leserin zwischen 16 und 65 Jahren, wie ein Zuschauer hinter der Glasscheibe, der nicht reinkommt.

Von «Heidi» bis Robert Seethaler

Doch es gibt vielleicht eine leise Hoffnung für jene, die sich mit all jenem schwertun. Für den Schlaganfallpatienten, den Lernbehinderten, den, der die Sprache neu erlernt oder solche, welchesich nicht mehr lange konzentrieren können oder an beginnender Demenz leiden. Aber auch Gehörlose, deren Muttersprache eben Gebärdensprache und nicht die Schriftsprache ist.

Mit einer neuen, wenn auch über-sichtlichen Abteilung in der Bieler Stadtbibliothek soll solchen Menschen derSpass am Lesen wiedergegeben werden,ein zweisprachiges Angebot mit rund 100 Titeln steht zur Ausleihe. Zwei geschulte Mitarbeiterinnen weisen Interessierte ein und händigen ihnen die Benutzerregeln in Leichter Sprache aus.Eine Übersetzungsarbeit, welche sich über Monate hinzog, mit Texten, die zwischen dem Zürcher Büro für Leiche Sprache der Pro Infirmis und der Stadtbibliothek hin- und hergingen. «Es isteben gar nicht so leicht mit der LeichtenSprache», sagt der Direktor der Stadtbibliothek, Clemens Moser. Doch es ist vollbracht: In zwei kleinen Kästchen befinden sich Titel wie «Heidi», «Der Graf von Monte Christo», «Sherlock Holmes» oder«Ein ganzes Leben» von Robert Seethaler. Stefan Zweigs Novellen sind vertreten, Nele Neuhaus‘ «Unbeliebte Frau«.

Gutes und weniger Gutes

Und wie funktioniert das, wenn so einBuch in Leichte Sprache (siehe auchInfobox) «übersetzt» wird? Da gibt esgute und weniger gute Beispiele. Undnatürlich gibt es Verlage, die gar nichterst in diesem Bereich aktiv werden wollen, gerade der englischsprachige Markt zeige sich nicht sehr interessiert, Tite lübersetzen zu lassen, sagt ein Verleger einfach formulierter Belletristik – zu gross der Markt der Anglosphäre, zu arrogant. Dabei kommt die Leichte Spra-che seit den 70er-Jahren von dort.

Und die Autoren? Einer, der sich zuder Übertragung seines Buches geäussert hat, ist Arno Geiger. Nachdem sein Buch «Der alte König in seinem Exil» in Leichter Sprache erschien, sagte er:«Die Vereinfachung der Sätze und die Streichungen haben natürlich Spuren hinterlassen. Aber die Art des Denkens und stellenweise die Art des Erzählens:Da ist etwas erhalten geblieben. Der Geist des Buches ist spürbar.» Leichte Sprache vermag durchaus, literarisch zu sein.

Gottfried Keller geht gar nicht gut

Und dann gibt es Versuche mit einem Gottfried Keller, welche man nicht ganz versteht. Denn Wer soll nach der Lektüre dieses ersten Satzes noch einsteigen? «An dem schönen Flusse, der eine halbe Stunde entfernt an Seldwyl vorüberzieht, lagen vor Jahren auf einem grösseren Erdhügel drei lange Äcker, gleich drei riesigen Bändern nebeneinander.» Wow. Das zieht rein. Das ist schlicht eine Verschlimmbesserung,die keiner braucht. Wenn dergleichenunter dem Label «Easy Readers» und der Kategorie «mittelschwer» läuft,kann man eigentlich nur schmunzeln.

Hauptsache, das Gras ist grün

Immer wieder gaben Versuche, Dingein Leichte Sprache zu übertragen, Anlass zu Hohn und Spott. «Krüppelsprache», «Kindersprache» hiess es da schon mal. Oder ein Magazin verwies neckend auf den literarischen Wert der Übersetzung der Fifa-Fussball-Regeln:«Auf dem Boden vom Fussballfeld muss Gras sein. Das Gras darf auch aus Plastik sein. Aber nur wenn es erlaubtes Gras aus Plastik ist. Das Gras muss entweder echt sein oder aus Plastik. Manchmal darf aber auchbeides gemischt sein. Hauptsache das Gras ist grün:»

Oder die Versuche, Paragrafen aus dem deutschen Strafgesetzbuch zu vereinfachen: «Das ist auch verboten: über andere Leute Lügen erzählen. Die Verleumdung ist ähnlich wie die üble Nachrede. Nur schlimmer. Denn diesmal habe ich mit Absicht gelogen. Ich wusste, dass es eine Lüge war.»

Lustig? Erhellend? Oder noch immer zu kompliziert? Aber da ist ja noch Arno Geiger. Der Geist seines Buches überden demenzkranken Vater ist auch in einfachen Sätzen erhalten geblieben.Und vielleicht erfüllt sich dereinst die Hoffnung, die Geiger in einem Interview äusserte: «Lesen und Schreiben sind für mich so wichtig wie Salz und Brot. Lesen und Schreiben haben mir seit meiner Kindheit geholfen, mich als Person zu entwickeln. Die Chancen, die mit Lesen und Schreiben verbunden sind, sollen möglichst allen Menschen offen stehen. Deshalb unterstütze ich dieses Projekt.» Viel mehr muss darüber gar nicht gesagt werden. Oder, in den Worten der Leichten Sprache: «Die Geschichte von meinem Vater möchte ich hier erzählen. Seine Geschichte ist auch ein Teil von meiner eigenen Geschichte.Und eigentlich ist die Geschichte meines Vaters auch ein Teil von uns allen.»

Info: Am Montag, 18. März, 18 Uhr, wird die leicht zu lesende Bibliothek im Rah-men der Re-Labalisierung der Stadtbibliothek durchs Forum für Zweisprachigkeit präsentiert; Isabelle Freymond spielt zwei kurze bilingue Stücke.


Leichte Sprache ist ein Hilfsmittel wie ein Rollstuhl – und den bezeichnet man auch nicht als verhunztes Velo. Den noch hat sie es schwer in der öffentlichen Wahrnehmung.PW/A

 

Leichte Sprache

Die Leichte Sprache bezieht sich aufdie Schriftsprache und orientiert sich an den Sprachniveaustufen nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen Al (elementare Sprachan-wendung) bis B1 Kennzeichen: Einfache Hauptsätze(Subjekt, Prädikat, Objekt), Vermeidung doppelter Negation («keine schlechte Wahl») und von Konjunktiv, Genitiv,Passivsätzen, grössere Schrift (ab14 Punkt), keine Serifenschrift, welche schlechter lesbar ist, möglichst unvollständig gefüllte Zeilen, gleiche Wörter für gleiche Dinge, komplexe Wörter mit Bindestrichen gliedern
Infoblatt zu Leichter Sprache des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) unter www.ebgb.ch, Themen der Gleichstellung> E-Accessibility> Barrierefreie digitale Kommunikation> Leichte Sprache (PDF) Belletristik in Leichter Sprache gibtes u.a. vom deutschen Verlag Spass am Lesen und neu in der Stadtbibliothek auf Französisch und deutsch (gau)