«Hardrock vielleicht im Keller»

(Der Bund)

Inklusion
Jonathan Schweyer und Tino Kölliker leben mit einer Behinderung. Selbstständig wohnen möchten sie trotzdem. Nun ist der Spatenstich für ihre Wohnung in Bern erfolgt

von Brigitte Walser

Jonathan Schweyer und Tino Kölliker kennen sich seit der 7. Klasse. Nun wollen die 24-Jährigengemeinsam eine Wohngemeinschaft in Bern gründen. Der Spatenstich ist zwar eben erst erfolgt, doch Tino Kölliker weiss bereits, welches Sofa für die Terrasse infrage kommt. Der Flyer, mit dem sie weitere WG-Mitglieder suchen, ist auch schon geschrieben.

Für die jungen Männer ist der Einzug in eine WG ein grosser Schritt. Beide haben eine geistige Behinderung, Jonathan Schweyer lebt mit Autismus, Tino Kölliker mit einem Downsyndrom. Ihre Familien haben die Wohnpläne gemeinsam mit Insieme Kanton Bern in Angriff genommen. Der Verein engagiert sich für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. «Die WG soll im Sommer 2023 starten», bestätigt Käthi Rubin, die das Projekt leitet und die Geschäftsstelle von Insieme Kanton Bern führt.

Inklusive Sechser-WG

Ab sofort suchen die zwei Kollegen Mitbewohnerinnen und Mitbewohner: junge Erwachsenemit Behinderung oder ohne -also Normal-Behinderte, wie Jonathan Schweyer sie nennt. Ihr Ziel ist eine bunt durchmischte inklusive Sechser-WG, in derman sich gegenseitig hilft, abends zusammen kocht undauch an den Wochenenden etwas gemeinsam unternimmt -nur am Sonntagabend werde er nicht zur Verfügung stehen, hält Tino Kölliker fest. Dieser Abend sei für das Nachtessen bei seinen Eltern reserviert.

Menschen mit Behinderung sollen selber bestimmen können, wo und mit wem sie leben, und nicht zu besonderen Wohnformen verpflichtet werden: So verlangt es die UNO-Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz 2014 in Kraft gesetzt hat. Nach und nach setzen die Kantone diese Forderung um. Der Kanton Bern etwa startete ein Pilotprojekt, das als Berner Modell bekannt wurde: Er finanziertnicht länger Heime und Heimplätze, sondern klärt bei allen Betroffenen ab, wie viel Betreuung sie benötigen und was diese kostet.

«Ich wohne lieber mit anderen zusammen als allein.»
Jonathan Schweyer

Den entsprechenden Betrag können sie dann in einen Heimplatz investieren oder in Assistenzpersonen, die sie in den eigenen vier Wänden unterstützen. Inzwischen ist das Berner Modell in einen Gesetzesentwurf geflossen, der demnächst im Kantonsparlament beraten wird, 2023 soll das Gesetz in Kraft treten. Dann kann auch die WG starten.

Die künftigen WG-Bewohner leben bei ihren Eltern in Kehrsatz und Köniz. Sie haben miterlebt, wie ihre Geschwister von zu Hause ausgezogen sind, bei Jonathan Schweyer war es die Schwester, bei Tino Kölliker der Bruder, «der grösser ist, aber jünger». Seither möchten auch sie ausziehen. Jonathan Schweyer ist überzeugt, dass eine WG das Richtige ist: «Ich wohne lieber mit anderen zusammen als allein.» Sein Kollege könnte sich vieles vorstellen: «Im Moment will ich mit Kollegen wohnen, später dann mit dem Schatz.»

Die jungen Männer benötigen Hilfe im Alltag. Ist das neue Gesetz in Kraft, werden sie nach der individuellen Abklärung eine Kostengutsprache erhalten und diese für Assistenzpersonen nutzen. Theoretisch könnten sie ihre Mitbewohner anstellen. Doch das wollen sie nicht. Die Menschen, die ihnen helfen, sollen von extern kommen. Gemäss Projektleiterin Käthi Rubin hat das auch praktische Gründe: Vielleicht seien die anderen WG-Mitglieder im Studium und stünden während Semesterferien nicht zur Verfügung, oder es sei eine professionelle Assistenz nötig, eine Art Wohncoach. Mit diesem könnten sie etwa Wochenpläne erarbeiten oder Haushaltarbeiten üben.

Das ist auch der Grund, weshalb die zwei schon jetzt nach Mitbewohnern Ausschau halten. «So können wir im nächsten Jahr eine Bedarfsplanung machen undklären, wie sich die WG-Mitglieder einbringen und welche externe Assistenz nötig ist», erklärt die Projektleiterin. Ob sich interessierte junge Frauen oder Männer tatsächlich so früh im Voraus melden, muss sich zeigen. «Wir machen es zum ersten Mal und sind lieber rechtzeitig unterwegs», so Käthi Rubin. Schliesslich benötige auch die Kennenlern- und Auswahlphase Zeit.«Vielleicht sind zu Beginn nicht alle Zimmer besetzt, vielleicht ergeben sich Wartelisten, wir wissen es nicht.»

Auch wenn erst der Aushub geschafft ist: Die WG-Gründer haben die Baupläne schon genau im Kopf. Die Wohnung ist Teil der neuen Überbauung an der Reichenbachstrasse 118. Insieme Kanton Bern wird sie von der stadt Bern mieten und Untermietverträgr abschliessen.

«Später will ich dann mit dem Schatz wohnen.»
Tino Kölliker

Die zwei WG-Gründer seien in alle Prozesse einbezogen worden und bei Sitzungen mit den Architekten dabei gewesen, erzählt Käthi Rubin. Alle sechs Zimmer werden über ein eigenes Bad verfügen, Küche, Wohnzimmer und Balkon teilen sich die Bewohner. Die Miete soll 750 bis 850 Franken ro Person betragen.

Eine Wohngemeinschaft kann sich durch viele Aus- und Einzüge auszeichnen. Erträgt eine inklusive WG ein Kommen und Gehen? «Diese Freiheit sollen alle WG-Mitglieder haben, ob mitoder ohne Behinderung», sagt die Projektleiterin. Aber natürlich sei man an einer gewissen Konstanz interessiert. Die zwei Kollegen treffen sich regelmässig zu einer Videokonferenz mit Nuria van der Kooy von der Wohnschule der Pro Infirmis Zürich und Tobias Studer von der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. Gemeinsam gehen sie so die jeweils nächsten Schritte an. Die Fachleute begleiten die Wohnpläne und sind während der Projektphase Assistenzpersonen der 24-Jährigen.

Das Projekt startete bereitsvor drei Jahren und ist aussergewöhnlich. Dass Menschen mit einer geistigen Behinderung selber bestimmen, wo und mit wem sie wohnen und wer ihnen assistiert, war bisher kaum vorgesehen – man habe es ihnen garnicht zugetraut, sagt Käthi Rubin. Da wolle Insieme Kanton Bern ein Zeichen setzen. Der Verein hat das Projekt initiiert,möchte sich aber später daraus zurückziehen. Vorher jedoch soll ein Leitfaden für selbstbestimmtes Wohnen erstellt und das Projekt nach dem ersten Jahr evaluiert werden.

Stress mögen sie nicht

Jonathan Schweyer arbeitet inder technischen Montage im Blinden- und Behindertenzentrum in Köniz, sein Kollege in der Gärtnerei von Bernaville in Schwarzenburg, Zur Arbeit fahren beide selbstständig mit dem ÖV. In der WG werden sie gern mitanpacken. Tino Kölliker sagt, er übe jeden Mittwoch mit seiner Mutter haushalten, «im Badputzen bin ich Profi».

Jonathan Schweyer ist vonbeiden der ruhigere, er kennt sich mit Zahlen aus, liest gern undzählt Gamen und Bausätze zuseinen Hobbys. Nach einem Arbeitstag kann er sich vorstellen,in seinem Zimmer die Ruhe zu geniessen. Tino Kölliker ist der extrovertiertere, er tanzt und singt gern, hört mit Vorliebe Hardrock – «vielleicht dann im Keller», lachen die zwei – und mag Velofahren und Fussball.

In einem sind sie sich sehr einig: Stress mögen sie nicht. Und beide haben die gleiche Vorstellung: Wenn sie in der WG leben, möchten sie an Weihnachtenihre Familien einladen. Dann soll Fondue chinoise aufgetischt werden.


Jonathan Schweyer und Tino Kölliker planen in Bern eine Wohngemeinschaft.
Foto: Adrian Moser