«Ich bin Elena Kratter. Mich gibt es nur mit Prothese!»

(Schweiz am Wochenende / Bündner Zeitung)

Die 25-jährige Schwyzer Behindertensportlerin erlebt in Tokio ab Dienstag ihre Paralympics-Premiere mit Einsätzen über 100 m und im Weitsprung. Insgesamt kämpfen rund 4400 Athletinnen und Athleten aus 160 Nationen um die Medaillen.

Rainer Sommerhalder

Elena Kratter strahlt, als würden wir uns ewig kennen. Dabei hiess es im Vorfeld des Gesprächs, die junge Frau aus Vorderthal im Kanton Schwyz sei ein wenig scheu und in ihren Antworten zurück-haltend. Von wegen! Die 25-Jährige punktet mit ihrer Persönlichkeit und der offenen Art, mit Fragen umzugehen.

Eine Kostprobe? Politische Korrektheit bei den Formulierungen ist bezogen auf Paralympics-Teilnehmende eine heikle Sache. Wie soll man Athletinnen und Athleten im Rollstuhl oder mit Prothesen bezeichnen, ohne sie zu diskriminieren? Elena Kratter antwortet: «Schreiben Sie Behindertensportlerin. Alles andere wirkt erzwungen.»

Elena Kratter trägt am rechten Bein von oberhalb des Knies eine Prothese. Weil sie bei der Frühgeburt mit ihrer eineiigen Zwillingsschwester einen zu schwachen Herzkreislauf hatte, musste der Unterschenkel amputiert werden. Sie ist mit der Behinderung aufgewachsen, kennt es nicht anders. Sie hadert nicht. «Ich habe stets für alles eine Lösung gefunden», sagt sie. Die Beeinträchtigung habe ihr nie zu schaffen gemacht, und sie würde sich ihr Leben nicht anders wünschen. «Ich bin Elena Kratter. Mich gibt es nur mit Prothese!»

Die Belastung auf den Körper wurde im Skisport zu gross

Die grosse Leidenschaft der Schwyzerin ist der Sport. Sie liebt die Bewegung. Auf der Liste ihrer Hobbys findet man Klettern und Segeln. Sie könne nicht zwei Wochen am Stück ohne Sport sein. «Dann werde ich ungeduldig.» Schon früh stand sie auf den Ski. Auch Stürze konnten Elena Kratter nicht stoppen.

Den Mut, den sie als ihre Stärke bezeichnet, hat sie sich früh auf den Pisten im Hoch Ybrig angeeignet.

Im Verlauf der Skikarriere wechselte sie von der Prothese auf das einbeinige Fahren. Ob eine Prothese unterhalb oder oberhalb des Knies beginnt, macht einen grossen Unterschied. Bei Letzterem gilt es, auch die Funktion des Knies zu ersetzen. Elena Kratter sagt, dass dies aus der Hüfte und dem Rumpf heraus gesteuert wird. Die Kräfte, die dann auf den Körper wirken, sind gerade bei Skirennen enorm.

Knapp verpasste die engagierte Sportlerin, die an sechs Tagen die Woche je zwei Trainings absolviert, die Qualifikation für die Winter-Paralympics 2018 in Pyeongchang. Eine Knieverletzung nach einem Sturz an der WM 2019 zwang Elena Kratter, die Skikarriere aufzugeben. «Das ist mir extremschwergefallen. Der Skisport war wie eine zweite Familie», sagt sie.

Doch das bedeutete nicht das Ende ihrer Sportkarriere. Schon seit ihrer Lehre als Orthopädistin hat sie intensiven Kontakt zum mehrfachen deutschen Paralympics-Sieger Heinrich Popow. Der Sprinter und Weitspringer trägt ebenfalls eine Knieex-Prothese. Er hat Elena Kratter den Wechsel zur Leichtathletik glühend empfohlen. Ihn und nicht etwa eine Athletin oder einen Athleten ohne Behinderung nennt sie ihr grosses Vorbild.

Im gleichen Rennen wie die Sprinterinnen ohne Behinderung

Die Leichtathletikkarriere begann auf Anhieb mit viel Erfolg. Im allerersten Rennen über 100 m schaffte sie die B- Limite für die Weltmeisterschaften. An der EM im Juni 2021 holte sie im Sprint und im Weitsprung je eine Silbermedaille. Die Türe zu den Paralympics in Tokio war geöffnet. Elena Kratter lobt den Schweizerischen Leichtathletik-Verband. Dieser ermöglicht ihr, an Meetings gegen Nicht-Behinderte zu starten. Es sei zwar eine grosse Challenge, aber auch eine riesige Motivation. «Ich versuche, den Abstand zu ihnen so klein wie möglich zu halten.»

Ihre Ziele in Japan formulierte Elena Kratter defensiv: Erfahrungen sammeln und wenn möglich persönliche Bestleistungen erzielen. Von einer Medaille spricht sie im Gegensatz zu ihrem sportlichen Umfeld nicht. «Dieser Wettkampf ist grösser als alles, was ich bisher in meinem sportlichen Leben gemacht habe. Ich bin noch nie in einem nur annähernd so grossen Stadion gerannt. Ich weiss nicht, was alles auf mich zukommt und wie ich darauf reagiere.»

Das vorsichtige Formulieren ihrer Ziele liegt auch daran, dass Elena Kratter das Selbstvertrauen als Schwäche bezeichnet. «Zu zweifeln gehört ein wenig zu mir», sagt sie. Aber es gelinge ihr je länger desto besser, den Schalter wieder zu kippen. Denn im Grunde weiss die 25-Jährige, dass sie bestmöglich auf Tokio vorbereitet ist.

Ist es denn im Sport ein Vorteil, wenn man eine Behinderung von Geburt her hat? Elena Kratter differenziert. Es gebe durchaus auch einen spürbaren Nachteil. «Mein Hirn hat das Bewegungsbild, wie man schnell rennt, nie abgespeichert. Deshalb ist die Koordination im Sprint meine grösste Herausforderung. Daran arbeite ich intensiv.»

Ein Leben fast wie eine Profisportlerin

Die Maturitätsschule für Erwachsene in Sargans, welche ihr ein späteres Studium erlauben soll, hat sie vorerst ausgesetzt. Wegen der Paralympics und dessen, was ab dem 1. November auf sie zukommt. Elena Kratter wird als erste Behindertensportlerin überhaupt die Spitzensport-Rekrutenschule in Magglingen absolvieren. Die Unterstützung durch das Militär ist für sie auch finanziell ein wichtiger Posten, denn mit 80 Prozent Einsatz für den Sport und 20-prozentiger Arbeitsstelle als Orthopädistin lebt es sich nicht auf grossem Fuss. «Es ist eine knappe Angelegenheit», sagt Elena Kratter. Neben der Unterstützung durch die Sporthilfe kann sie seit diesem Jahr auf die Credit Suisse als persönlichen Sponsor zählen.

Am heutigen Beruf hat Elena Kratter von Kindesbeinen her geschnuppert. «Da ich während des Wachstums regelmässig neue Prothesen anfertigen lassen musste, habe ich viel Zeit in der Werkstatt verbracht. Ich war früh fasziniert von diesem Beruf und habe schnell gewusst, was ich lernen will.»

Und nun befasst sie sich mit dem Gedanken, die handwerkliche Seite der Prothesenanfertigung mit der wissenschaftlichen Seite eines Studiums in Biomechanik zu ergänzen. Auch dieser Schritt folgt einem klaren Ziel. «Man redet immer von Hightech-Prothesen. Aber was wir tragen, ist noch lange nicht Hightech.» Die Funktion des Knies werde nach wie vor nur ungenügend ausgeübt. «Solange ich nicht normal eine Treppe hinaufsteigen kann, muss doch hier noch mehr möglich sein», sagt Elena Kratter. Und man spürt ihren Ehrgeiz, auch im beruflichen Umfeld wie im Sport Grenzen zu verschieben.

Marcel Hug und der schnellste Rollstuhl der Welt

Der Thurgauer Marcel Hugüberlässt nichts dem Zufall. Der RollstuhlSportler mit dem einprägsamen Silberhelm will an den Paralympics in Tokio bei seinen vier Starts in der Leichtathletik die stolze Medaillensammlung erweitern. Dabei soll auch eine aufwendige Innovation im Bereich Material helfen. Mit Unterstützung der ETH Zürich und der Sauber Fl Group in Hinwil liess der 35 Jährige den angeblich schnellsten RennRollstuhl der Welt anfertigen.

«OT Foxx» nennt sich das Gefährt mit dem bis ins letzte Detail optimierten Set-up. Die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft und die Tests im Hinwiler Windkanal sorgten für eine Rundum-Verbesserung. Die Aerodynamik des Rollstuhls wurde ebenso unter die Lupe genommen wie jene des Helms und des Renndresses. Auch die Räder des Gefährts sowie die Bereifung hin bis zum perfekten Luftdruck wurden durchleuchtet, die Sitzposition optimiert und das neue Chassis komplett aus Karbon gebaut.
(rs)


Elena Kratter
25, Vorderthal (SZ)
Leichtathletik
(100 m und Weitsprung)

Elena Kratter gewinnt im Mai 2021 an der Europameisterschaft in Polen, ihrem ersten Grossanlass in der Leichtathletik, Silber über 100 m. Bild: Marcus Hartmann/PD

 

Historische Premiere: Spitzensport-RS öffnet für Behindertensportler

Die Förderung des Schweizer Leistungssports durch die Armee erhält eine neue Dimension. 17 Jahre nach der Etablierung dieser Spezialform der Rekrutenschule sind erstmals ein Sportler im Rollstuhl und eine Athletin mit Beinprothese als Soldaten dabei.

Es ist eine Art Ritterschlag für den paralympischen Sport in der Schweiz. Mit der 25-jährigen Leichtathletin Elena Kratter aus Vorderthal und dem 22-jährigen Handbiker Fabian Recher aus Spiez absolvieren zwei aktuelle Teil nehmer der Paralympics in Tokio ab dem 1. November die Spitzensport-Rekrutenschule in Magglingen. «Für uns ist dies eine Riesenchance», sagt Matthias Schlüssel am Telefon aus Tokio. Der Leiter Spitzensport beim Fachverband PluSport sagt: «Es führt zweifellos zu einer weiteren Professionalisierung unserer Athletinnen und Athleten. Sie können sich während 18 Wochen an Sportlern orientieren, die hochprofessionell unterwegs sind. Das bringt sie auf jeden Fall weiter.»

Wie wertvoll das Engagement der Schweizer Armee für den Spitzensport ist, unterstrich das Schweizer Abschneiden an den Olympischen Spielen in Tokio. Sieben der 13 Medaillen gingen an Sportsoldaten. Im Vergleich zu den Sommerspielen 2016 in Rio stieg der Anteil Sportsoldaten innerhalb der Delegation von 29 auf 41 Prozent.


Beim RS-Start am 1. November warten auch ein Athlet im Rollstuhl und eine Sportlerin mit Prothese auf das Fassen ihres Armee-materials. Bild: Kurt Henauer/PD

 

Die aktuelle Form der Spitzensport-RS gibt es seit 2004. Im Jahr 2006 absolvierte sie erstmals eine Frau. In der Sommer-RS, welche diesen Freitag zu Ende ging und von 54 Athleten aus Wintersportdisziplinen durchlaufen wurde, waren 14 Frauen mit an Bord.

Seit 2018 diskutieren der Fachbereich Spitzensport der Armee, die beiden Fachverbände und Swiss Olympic über eine Öffnung der Fördergefässe für Behindertensportler. Einfach war dies auch deshalb nicht, weil eine Behinderung grundsätzlich zur Dienstuntauglichkeit führt. Dass in diesem Modell nun dienstuntaugliche Menschen zu Sportsoldaten ausgebildet werden, war eine völlig neue Ausgangslage und führte zu einigem Klärungsbedarf mit der Invalidenversicherung.

Urs Walther, seit 2008 Chef Spitzensport der Armee, sagt, dass die Verdoppelung der Anzahl Plätze in der Spitzensport-RS von jährlich 70 auf140 Plätze bis ins Jahr 2023 diesem Projekt in die Karten spielte. Für eine hindernisfreie Benutzung musste die Infrastruktur teilweise angepasst werden. Der Berner sagt, er sei sehr guten Mutes, dass dieses Projekt gelingen werde.

Auch der Schweizer Olympiachef Ralph Stöckli freut sich über die neuen paralympischen RS-Kameraden für die Sporttalente: «Das ist eine coole Sache. Ich bin überzeugt, dass sie für alle Beteiligte befruchtend sein wird.»

Rainer Sommerhalder

Die Schweizer Delegation anden Paralympics in Tokio