Individuell und selbstbestimmt

(SozialAktuell)

Im Kanton Bern haben Menschen mit Behinderung in Zukunft die Wahl – und die Institutionen mehr unternehmerischen Spielraum
Text: Astrid Wüthrich

Für erwachsene Menschen mit Behinderung schlägt der Kanton Bern neue Wege ein. Im Rahmen des kantonalen Behindertenkonzepts sollen Menschen mit Behinderung über die Einführung eines neuen Finanzierungsmodells mehr Selbstbestimmung, mehr Eigenverantwortung sowie mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erhalten. Das neue System richtet sich am individuellen Bedarf der betroffenen Personen aus. Dadurch wird diesen die freie Wahl der Lebensform ermöglicht. Gleichzeitig fördert die neue Finanzierungsform die unternehmerische Freiheit der Institutionen

Menschen mit einer Behinderung haben oftmals keine Wahl: die heutigen Finanzierungssysteme ermöglichen ihnen insbesondere das Leben in einer Behinderteninstitution. In den eigenen vier Wänden wohnen und gleichzeitig Betreuungsangebote in Anspruch nehmen zu können ist heute nur sehr beschränkt möglich. Diese freie Lebenswahl steht dank dem Assistenzbeitrag der IV einigen Menschen bereits offen, mit dem Berner Modell will der Kanton Bern dies für alle Menschen verwirklichen. Um erste Erfahrungen zu sammeln, wird die Einführung dieser Subjektfinanzierung aktuell in einem Pilotprojekt simuliert. Die definitive Umsetzung ist ab 2021 geplant.

Der Systemwechsel
Im bisherigen System finanziert der Kanton Bern Institutionen, und zwar über eine Pauschalfinanzierung pro Klientin oder Klient und je nach Angebot (Werkstätte, Tagesstätte oder Wohnheim). Neu werden vom Kanton nicht mehr in erster Linie Institutionen (Objekte) finanziert, sondern jeder Mensch (Subjekt) mit Behinderung erhält die Kosten für seinen persönlichen behinderungsbedingten Betreuungs- und Pflegebedarf vergütet.

Mit der Einführung der Subjektfinanzierung wird der individuelle Bedarf ausschlaggebend für die Höhe der kantonalen Beiträge. Der Kanton Bern hat gemeinsam mit verschiedenen Expertinnen und Experten und in engem Austausch mit den Fach- verbänden ein Abklärungsinstrument entwickelt. Dieses Instrument ermöglicht es, mittels eines differenzierten Verfahrens den Betreuungs- und Unterstützungsbedarf der Menschen mit Behinderung individuell zu bestimmen. Auf dieser Basis wird der Kanton anschliessend eine Kostengutsprache ausstellen. Die betroffene Person beziehungsweise ihre gesetzliche Vertretung haben in der Folge die Wahl, ob jemand in einer Institution oder privat wohnt sowie wo sie arbeitet. Die verschiedenen Betreuungsleistungen können innerhalb des Kostendachs «eingekauft» werden. Für die Abklärung des persönlichen Unterstützungsbedarfs finanziert der Kanton Bern eine Fachstelle, deren Aufgabe es ist, die Abklärungen durchzuführen und den betroffenen Personen ihren je individuellen Bericht zukommen zu lassen. IndiBe, die Abklärungsstelle für den individuellen Bedarf von Menschen mit Behinderung, sorgt dabei für gleiche Abklärungsbedin- gungen für alle Menschen, und zwar unabhängig von der Behinderungsform und unabhängig davon, ob sie ambulante, stationäre oder teilstationäre Leistungen beziehen.

Diese Unabhängigkeit vom künftigen oder gewünschten Wohn- und Arbeitsort ist ein zentraler Faktor für die Gewährung der Wahlfreiheit der Menschen mit Behinderung. So kann sichergestellt werden, dass der festgestellte Bedarf und die entsprechenden Leistungen sich nach dem Bedarf des Menschen und nicht nach dem Bedarf der Institution oder einer Bezugsperson richten. Aus Sicht des Kantons stehen verschiedene Ziele im Vordergrund:

Sicherstellung der Selbstbestimmung, Wahlfreiheit erwachsener Menschen mit Behinderung

Im Rahmen des kantonalen Behindertenkonzepts sollen Menschen mit Behinderung über die Einführung eines neuen Finanzierungsmodells mehr Selbstbestimmung, mehr Eigenverantwortung sowie mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erhalten. Dank der Einführung eines Finanzierungssystems, das sich am individuellen behinderungsbedingten Betreuungs- und Unterstützungsbedarf der betroffenen Personen ausrichtet, wird diesen die freie Wahl der Lebensform ermöglicht.

Sicherstellung eines optimalen Versorgungssystems

Die Steuerung wird durch die Einführung eines «kostenwahren» Finanzierungssystems verbessert. Gleichzeitig fördert die neue Finanzierungsform die unternehmerische Freiheit der Institutionen.

Sicherstellung des Schutzes der Menschen mit behinderungsbedingtem Unterstützungsbe darf

Im Rahmen der Erteilung von Betriebsbewilligungen sowie durch die Aufsichtstätigkeiten des zuständigen Fachamtes wird der Schutz der Menschen mit behinderungsbedingtem Unterstützungsbedarf sichergestellt.

Veränderungen in der Behindertenpolitik

Der individuelle Bedarf wird ausschlaggebend für die Höhe der kantonalen Beiträge Die neue Finanzierungsform fördert die unternehmerische Freiheit der Institutionen Im Pilotprojekt wurde deutlich, dass der administrative Aufwand relativ gross ist

Das Behindertenkonzept im Kanton Bern ist Ausdruck grundlegender Veränderungen in der Behindertenpolitik. 2006 verabschiedete die UNO-Vollversammlung die UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK), welche unter anderem die Wahlfreiheit betreffend Wohnort und Wohnform für Menschen mit Behinderung forderte. Die Schweiz ratifizierte die UNO-BRK im Jahr 2014, seither sind deren Prinzipien auch hierzulande verbindlich. Die UNO- BRK ist Ausdruck der seit den 1980er-Jahren laufenden Bestrebungen, mehr Unabhängigkeit, Wahlfreiheit und soziale Teilhabe zu garantieren.

Bereits in den 2000er-Jahren gab es im Kanton Bern verschiedene politische Vorstösse, die parallel zur Einführung der Subjektfinanzierung im Gesundheitswesen eine solche auch für den Behindertenbereich forderten. Hintergrund dieser Vorstösse waren unter anderem Kostensteuerung und -transparenz sowie die Förderung der Wahlfreiheit. Nicht zuletzt hat auch die Neugestaltung des nationalen Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung (NFA), welche die Zuständigkeit für den Behin- dertenbereich vollständig den Kantonen übertrug, zur Neugestaltung der bernischen Behindertenpolitik beigetragen.

Pilotprojekt und Umsetzung

Seit 2016 nehmen ausgewählte Institutionen und privat wohnende Personen an einem Pilotprojekt teil, aktuell wenden das neue System rund 450 Personen an und 14 Institutionen sind beteiligt. Bis Ende 2018 werden laufend weitere Personen in das Pilotprojekt aufgenommen. Dank der konstruktiven und intensiven Mitarbeit der involvierten Personen, Organisationen, Institutionen und Experten im Behindertenbereich sowie der breiten politischen Unterstützung verläuft das Pilotprojekt bisher grundsätzlich erfolgreich. Die bisher gesammelten Erfahrungen er- lauben nun Auswertungen, welche zur Validierung der Instrumente und Verfahren beitragen und die Planung der flächendeckenden Umsetzung vereinfachen.

Bereits früh wurde im Pilotprojekt deutlich, dass der administrative Aufwand sowohl für die betroffenen Menschen mit Behinderung als auch für die Verwaltung mit den bereits vorhandenen Instrumenten relativ gross war. Deshalb wird eine Weblösung (IBAS) entwickelt. IBAS vereinfacht die administrativen Prozesse (von der Anmeldung bis zur Abrechnung) und entlastet sowohl die Leistungsbezügerinnen und -bezüger wie auch die Verwaltung stark. Die Entwicklungsarbeiten sind im Gange, ab Anfang 2019 soll die Weblösung voll einsatzbereit sein.

Anfang 2017 wurde die neue Berner Informationsplattform für Menschen mit Behinderungen – www.participa.ch – auf dem Internet aufgeschaltet. Die Plattform wird durch die kantonale Behindertenkonferenz (kbk) im Auftrag des Kantons Bern entwickelt und betrieben. Aktuell befinden sich auf Participa vor allem Informationen über das «Berner Modell» zur Umsetzung des Behindertenkonzepts sowie auch Beiträge zu verschiedensten Themenbereichen wie Arbeit, Wohnen, Geld oder Beratung. Zudem ist neu ein «Marktplatz» aufgeschaltet, wo sich beispielsweise Anbieter und Nachfrager von Assistenzleistungen finden können.

Neben der Umsetzungsplanung und der Durchführung des Pilotprojekts laufen die Vorbereitungsarbeiten für die entsprechende Gesetzgebung bereits auf Hochtouren. Es ist geplant, mit Inkrafttreten des Gesetzes über die Sozialen Leistungen den Systemwechsel ab 2021 flächendeckend über das ganze Kantonsgebiet umzusetzen.

In eigener Sache
Erfolgreiche Praxisbeispiele gesucht
Liebe Leserinnen und Leser Helfen Sie uns dabei, Themen zu finden, hinzuschauen und ranzugehen.
Kennen Sie jemanden aus der Praxis, der oder die sich besonders engagiert oder ein innovatives Projekt auf die Beine gestellt hat? Fällt Ihnen ein Unternehmen ein, über das Sie in SozialAktuell gerne lesen würden? Oder möchten Sie selber einen Beitrag verfassen?
Melden Sie sich bei uns.
Bitte reichen Sie uns keine fertigen Texte ein. Skizzieren Sie grob den Inhalt und die Zielsetzung, damit wir eine Publikation prüfen
können. Besten Dank für Ihr Verständnis.
Senden Sie uns Ihre Vorschläge an
redaktion@sozialaktuell.ch