IV-Rente auch für Kinder im Ausland

(Neue Zürcher Zeitung)

KATHRIN ALDER

Anerkannter Flüchtling erhält recht Staaten, welche die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet haben, gewähren den sich auf ihrem Gebiet aufhaltenden Flüchtlingen die gleiche soziale Sicherheit wie Einheimischen. So steht es in Artikel 24 geschrieben. Auch die Schweiz gehört zu den Unterzeichnerstaaten. Was die Regelung konkret bedeutet, macht nun ein Urteil des Bundesgerichts deutlich. In dem am Freitag publizierten Entscheid befassten sich die Richter der Zweiten sozialrechtlichen Abteilung mit der Frage, ob anerkannte Flüchtlinge, die eine IV-Rente beziehen,auch Anspruch haben auf eine Kinder-rente für Kinder, die im Ausland leben.Das Bundesgericht bejahte diesen Anspruch, mit der Begründung, er gelte auch für Schweizer Eltern und IV-Bezüger.

Kinder in Frankreich

Konkret gelangte ein tschadischer Staatsangehöriger, der 1994 in der Schweiz als Flüchtling anerkannt wurde und eine ordentliche IV-Rente bezieht, 2016 an die IV-Stelle des Kantons Bern. Er verlangte die Ausrichtung von Kinderrenten für seine zwei Töchter, die er 2012 als seine Kinder anerkannt hatte und diebei ihrer Mutter in Frankreich leben. Ge-stützt auf das Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, haben Eltern, die eine IV-Rente beziehen, Anspruch auf solche Zusatzbeiträge für Kinder, wenn diese entweder jünger als 18 Jahre alt oder in einer Ausbildung sind.

Die zuständige IV-Stelle lehnte den Antrag ab mit der Begründung, die Kinder hätten die tschadische Nationalitätund lebten im Ausland. Der Mann gelangte in der Folge an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, das seine Beschwerde 2018 guthiess und seinen Anspruch auf IV-Kinderrenten im Grundsatz bejahte. Das Verwaltungsgericht wies die Sache zur Klärung weiterer Leistungsvoraussetzungen zurück an die zuständige IV-Stelle.

Gegen diesen Entscheid erhob die IV-Stelle Beschwerde am Bundesgericht.Die Richterinnen und Richter in Luzern wiesen sie jedoch ab. Zunächst hielten sie fest, bei Schweizer Eltern, die eine IV-Rente bezögen, werde nicht verlangt,dass die Kinder ihren Wohnsitz ebenfalls in der Schweiz haben. Für Kinder von anerkannten Flüchtlingen sei dies gemäss Landesrecht aber anders. Der entsprechende Bundesbeschluss verlange, dass Flüchtlinge, die eine IV-Rente beziehen,ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz haben. Das gleiche gelte für ihre Kinder. Die Genfer Flüchtlingskonvention hingegen verlangt bei der sozialen Sicherheit von Flüchtlingen Gleichstellung mit Einheimischen.

Völkerrecht vor Landesrecht

Das Bundesgericht stellte folglich einen Konflikt zwischen für die Schweiz verbindlichem Völkerrecht und diesem widersprechenden Landesrecht fest.In einem solchen Fall geht das Völkerrecht grundsätzlich vor, es sei denn, dieso genannte Schubert-Praxis wird angewendet. Trifft dies zu – wollte der Gesetzgeber beim Erlass der neueren landesrechtlichen Regelung also bewusst vom älteren Staatsvertrag abweichen- kommt das Landesrecht zur Anwendung. Im konkreten Fall befand das Bundesgericht allerdings, eine Anwendung der Schubert-Praxis sei nicht geboten. Es fand keine Indizien dafür,dass der Gesetzgeber die Absicht gehabt hätte, mit der Regelung im entsprechenden Bundesbeschluss bewusst vonder Genfer Flüchtlingskonvention abzuweichen. Deshalb habe Letztere Vorrang. Das Gericht wies die zuständige IV-Stelle an, abzuklären, ob auch die weiteren Voraussetzungen für die Ausrichtung einer Kinderrente erfüllt sind.
Urteil 9C_460/2018 vom 21. 1. 20 – BGE-Publikation.