Juristischer Streit um politische Argumente

(Neue Zürcher Zeitung)

Das Referendumskomitee gegen Sozialdetektive reicht Beschwerde
ein – wegen «irreführender» Informationen des Bundes


Ob Privatdetektive, die Sozialhilfebetrugsfällen nachgehen, mehr Kompetenzen als die Polizei hätten, ist umstritten. SIMON TANNER / NZZ

 

LUKAS MADER, BERN

Die grünen Häkchen und roten Kreuzchen machen auf einen Blick klar, was die Antwort ist: Überwachungen bis zu einem Jahr? Ja. Drohneneinsatz ohne Genehmigung? Nein. Politisch Umstrittenes scheint es nicht zu geben im Faktencheck, den die Unfallversicherung Suva zum Referendum gegen das Observationsgesetz aufgeschaltet hat. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) kommt in seinem Faktenblatt ebenfalls zu eindeutigen Antworten. Das stört die Gegner des neuen Gesetzes zur Überwachung von Versicherten, das am 25. November zur Abstimmung kommt. Denn sie sind nicht immer gleicher Meinung.

«Mutmassungen statt Fakten»

Deshalb hat das Referendumskomitee am Montag beim Regierungsrat des Kantons Zürich eine Abstimmungsbeschwerde eingereicht, die der NZZ vorliegt. Das BSV und die Suva als öffentlichrechtliche Anstalt sollen die Informationen im Internet entfernen beziehungsweise richtigstellen. «Das Bundesamt, aber auch die Suva haben die Aufgabe, die Wahlbevölkerung objektiv, neutral und faktentreu zu informieren», heisst es in der Beschwerde. Stattdessen seien die Angaben zum Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) irreführend oder unzutreffend. Für den Zürcher Rechtsanwalt Philip Stolkin vom Referendumskomitee geht es um Ehrlichkeit und Fairness im Abstimmungskampf. «Es kann doch nicht sein, dass der Bund Mutmassungen als Fakten hinstellt», sagt er. Der Bund argumentiere am Wortlaut der neuen Artikel vorbei und tue so, als wäre seine Auslegung Gesetz.

Der Bund bezieht sich bei seiner Einschätzung auf Entscheide des Bundesgerichts. Diese Urteile zu Observationen beruhen jedoch auf der früheren juristischen Grundlage. Deshalb ist ungewiss, wie die Gerichte das neue Gesetz auslegen würden – und das machen sich bei der politischen Diskussion Befürworter und Gegner zunutze. Besonders umstritten ist die Frage, ob mit dem neuen Gesetz Sozialversicherungsdetektive mehr Kompetenzen bei der Überwachung erhielten als Polizei und Nachrichtendienste. Die Gegner behaupten dies.

Wichtig dabei ist der Passus im Gesetz, der künftig Überwachungen auch an einem Ort erlauben würde, «der von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar ist». Dies könnte zum Beispiel ein Balkon oder ein Garten sein, der von der Strasse aus zu sehen ist. Eine solche Kategorie von «frei einsehbaren Orten» gibt es in der Strafprozessordnung nicht, in der die Überwachungsmöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden geregelt sind. Diese erlaubt Überwachungen ohne richterliche Genehmigung nur an «allgemein zugänglichen Orten» – Balkone und Gärten gehören nicht dazu.

Die Polizei dürfe dies trotzdem tun, ist der Bund überzeugt. Rolf Camenzind vom BSV sagt: «Die aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichts ist in der Strafprozessordnung nicht ersichtlich.» Mit den «frei einsehbaren Orten» werde die «herrschende Lehre und die bestehende Rechtsprechung» kodifiziert, obwohl sie über den Wortlaut von Art. 282 in der Strafprozessordnung hinausgehe, schrieb auch der Bundesrat Ende 2017. Ob dies die herrschende Lehre ist, ist allerdings umstritten: Im entsprechenden Urteil ging es nicht um einen Polizisten, sondern einen Privatdetektiv, dessen Observation eines Balkons das Bundesgericht als nicht strafbar beurteilte.

Thomas Gächter, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich, kann der bundesrätlichen Argumentation nichts abgewinnen. Das Bundesgericht habe eine Diskrepanz zum Strafprozessrecht geschaffen. «Ich bin überzeugt, dass die Sozialversicherungen mit dem neuen Gesetz mehr dürfen als die Strafverfolgungsbehörden», sagt er. Dies zeige sich auch darin, dass Versicherungen bei einem geringfügigeren Delikt wie dem unrechtmässigen Bezug von Sozialversicherungsleistungen Observationen mit technischen Hilfsmitteln durchführen dürfen – die Polizei jedoch nur etwa beim schwereren Straftatbestand des Betrugs.

Der Luzerner Assistenzprofessor für Straf- und Strafprozessrecht Stefan Maeder kommt ebenfalls zum Schluss, dass die Sozialversicherungen Kompetenzen erhalten, wie sie Strafverfolgungsbehörden in vergleichbaren Fällen nicht haben. Maeder hat im Auftrag des Referendumskomitees ein Kurzgutachten verfasst. Er spricht darin einen weiteren strittigen Punkt an: Was fällt unter den Begriff «frei einsehbar»? Für das Bundesamt für Sozialversicherungen ist klar, dass Detektive auch künftig nicht durchs Fenster ins Wohn- oder Schlafzimmer fotografieren dürfen – weil das Bundesgericht dies einst als Eingriff in die geschützte Privatsphäre taxiert hatte.

Maeder ist da weniger sicher. Es sei «völlig unbestimmt», was diese bisherige Gerichtspraxis für neue Bestimmungen bedeuten würde, wie sie das Gesetz nun schaffen will. Gächter gibt zusätzlich zu bedenken, dass das Parlament als Gesetzgeber Schlaf- oder Wohnzimmer trotz Diskussionen nicht von den Über wachungen ausgenommen habe. Dies habe zum Beispiel die Stadt Zürich getan, wo Observationen im Bereich Sozialhilfe nur im «Aussenbereich einer Wohnung» zulässig sind.

Bundesgericht entscheidet

Über den Vorwurf, der Bund informiere unsachlich und unvollständig, wird am Ende wohl das Bundesgericht als über-geordnete Instanz entscheiden. Beim BSV bestreitet man die Anschuldigung des Referendumskomitees. Bei den Angaben auf der Website handle es sich um Fakten, sagt Camenzind. «Zudem ist es nicht unsere Aufgabe, die Position der Gegner darzulegen, sondern die Position von Bundesrat und Parlament.» Die Suva beruft sich auf die Argumentation des Bundesrats und betont, die Quelle transparent anzugeben.