Kein Zutritt für Rollstuhlfahrer an mehr als der Hälfte der Haltestellen

(Limmattaler Zeitung)

Bis 2024 müssten alle Bushaltestellen behindertengerechtsein. Das werden Kanton und Gemeinden nicht schaffen.

Katrin 011er
Es bleiben noch vier Jahre Zeit,um alle der über 2200 Bushaltestellen im Kanton Zürich behindertengerecht zu machen. 856 davon liegen an Staatstrassenund fallen in die Verantwortungdes Kantons. 2024 läuft die zwanzigjährige Übergangsfrist für die Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes(BehiG) ab. Doch schon heute ist klar: Gemeinden und Kanton werden die Frist nicht einhalten.Denn im Kanton Zürich können Rollstuhlfahrer und Gehbehinderte erst bei 44 Prozent der Bushaltestellen einsteigen. Dies geht aus einer kürzlich publizierten Antwort des Regierungsrats auf eine Anfrage von drei SVP-Kantonsräten hervor.

Dennoch tut sich einiges.Die Regierung geht davon aus,dass jährlich 30 bis 50 Bushaltestellen hindernisfrei werden.Dies vor allem, wenn sowieso eine Sanierung ansteht. Ein Neubau kostet zwischen 100 000 und 175 000 Franken,ein Ausbau der Haltekante 5000 bis 8000 Franken. Priorisiert werden Haltestellen in der Nähe von Institutionen, die für Menschen mit einer Behinderung wichtig sind.

Die Anfragesteller erkundigen sich vor allem nach negativen Auswirkungen auf die Gemeinden. Die Regierung betont in der Antwort aber primär die Vorteile von hindernisfreien Haltestellen, etwa dass auch Personen mit Kinderwagen oder Gepäck schneller einsteigen können. Dadurch verkürze sich die Haltezeit, was auch dem Autoverkehr zu Gute komme.

Auch Joe Manser, der sich seit Jahrzehnten für den hindernisfreien öV einsetzt, konstatiert, dass einiges in Bewegung sei. Der Zürcher SP-Gemeinderat ist Mitglied der Behindertenkonferenz sowie der Expertenkommission des Zürcher Verkehrsverbunds(ZVV)für hindernisfreies Reisen. Die Verkehrsorganisation hätten schon vor Jahren reagiert. Das Rollmaterial des ZVV sei komplett behindertengerecht – auch weil niederflurige Busse wegen der international grossen Nachfrage unterdessen günstiger sind als hochflurige.

Gemeinden ohne Plan

Vor allem die grossen Zentren wie Zürich, Winterthur und Uster hätten realisiert, dass mit der Umsetzung des BehiG Kostenauf sie zu kommen, sagt Manser.Die Städte hätten die Kosten frühzeitig in den Budgets eingeplant und seien auch mit der Umsetzung schon weit. «Der Grossteil der Gemeinden hat aber nach wie vor keinen Plan.»

Dies zeigten auch die aktuell publizierten Zahlen. Denn dass 44 Prozent der Bushaltestelle behindertengerecht sind, heisst noch lange nicht, dass Rollstuhlfahrer dort autonom ein- und aussteigen können. Dies treffe wohl erst auf 500 bis 1000 Haltestellen zu, schätzt Manser. Die übrigen ermöglichen den Zugang mit Hilfe einer Rampe und durch das Abneigen des Busses.An mehr als der Hälfte aller Bushaltestellen im Kanton Zürich können Rollstuhlfahrer also nicht einsteigen.

Grundsätzlich gelte: «Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg», sagt Manser. Adliswil sei ein typisches Beispiel. Erst ging man davon aus, dass es am millionenteuren neuen Busbahnhof der Gemeinde im Sihltal keinen Platz habe für höhere Haltekanten. Die Behindertenkonferenz hat Einsprache eingereicht, was oft am Anfang eines Umdenken stehe, wie Manser sagt. «Nach ein paar Sitzungen mit den Verantwortlichen ging es dann plötzlich.» Geholfen habe, dass die verantwortliche Gemeinderätin wechselte.

Wo Bushaltestellen bis 2024 noch nicht angepasst sind – etwa weil bauliche Massnahmen als nicht verhältnismässig eingestuft wurden – müssen Ersatz-massnahmen wie ein Behindertenfahrdienst angeboten werden, schreibt der Regierungsrat weiter. Organisationen wie die Behindertenkonferenz könnten ab 2024 klagen. Sollte es zu Gerichtsfällen kommen, wäre die Verhältnismässigkeit nur bedingt ein Kriterium, vermutet Manser: «Schliesslich hatten die Gemeinden zwanzig Jahre Zeit und hätten die Kosten der neuen Haltestellen längst abgeschrieben, wenn sie frühzeitig reagiert hätten.»


Nur 44 Prozent der Haltestellen sind behindertengerecht.
Bild: Michele Limina