Kinderwunsch bei kognitiver Beeinträchtigung

(Sozial Aktuell)

Junge Eltern mit Einschränkungen brauchen verlässliche, langfristige Begleitung im Alltag


Bilder: Ruben Hollinger

 

Text: Charlotte Spindler
Die Zahl junger Frauen mit einer kognitiven Beeinträchtigung, die ein Kind bekommen,ist zwar gering, aber sie nimmt zu. Werberät bei einem mit Kinderwunsch? WelcheUnterstützungsangebote sind hilfreich?

Im Dok-Film «Ja, ich will!» porträtiert die TV-Reporterin Andrea Pfalzgraf die junge Schauspielerin Julia Häusermann, ihre Familie und ihren Ehemann. Julia hat das Down-Syndrom; bekannt geworden ist sie durch ihre Auftritte im Theater Hora. Im Film wird die Mittzwanzigerin auf der Bühne, mit ihren Eltern und bei der Hochzeit mit ihrem Remo gezeigt. Als sie beimAuszug von daheim ihre Sachen packt, gerät sie in einen heftigen Disput mit ihrer Mutter. Julia wirft den Eltern vor, ihr stän-dig Vorschriften zu machen und ihr auchdreinzureden, wenn es um die Familienplanung geht. Sie will Selbstverantwortung, und das sagt sie mit Nachdruck.

Die selbstbewusste Julia stellt uns vor Fragen, wie sie mit der 2014 in Kraft getretenen UNO-Behindertenrechtskonventionan Deutlichkeit gewonnen haben. Menschen mit einer geistigen Behinderung haben das Recht auf Selbstbestimmung, auf Sexualität und auf eigene Kinder – auch wenn sie in ihrer Handlungs- und Urteilsfähigkeit eingeschränkt sind. Die Rechte des Kindes auf Pflege, Gesundheit, Erziehung, Bildung müssen gewährleistet sein. Die Frage ist: Können die jungen Eltern fürihr Kind sorgen, erkennen sie seine Bedürfnisse? Können sie es später gebührend unterstützen und fördern? Welche Rahmenbedingungen sind nötig für ein gutes Heranwachsen des Kindes?

Was steckt hinter dem Kinderwunsch?

Wie Fachleute raten, sollte in einem ersten Schritt geklärt werden, welche Bedürfnisseund Vorstellungen hinter dem Wunsch, ein Kind zu bekommen, stehen können. In einem weiteren Schritt wird es darum gehen, die Fähigkeiten der künftigen Eltern zu klären, und schliesslich brauchen die Mütter oder Väter eine Begleitung beim Entscheid, ob sie nun für eine Elternschaft optieren oder sich – ein schmerzlicher Prozess – von dem Wunsch nach einem Kind verabschieden. Das Bildungsprogramm SToRCH+ kann als Entscheidungshilfe nützliche Dienste leisten: Es gewährt jungen Menschen Einblick in ein Leben mit dem Säugling, anhand einer Puppe, die gewickelt und gefüttert werden muss und auch nachts vielleicht weint(siehe auch Box SEPIA).

Eine Tagesstruktur schaffen

MuKiWo, das Mutter-Kind-Wohnen imaargauischen Küngoldingen, liegt mitten im Grünen: Auf der Rückseite des alten Bauernhauses gibt’s einen grossen Gartenmit Sitzplatz, Gemüse- und Blumenbeeten,ein Gehege für die Kaninchen und daneben den Stall für drei Ziegen. Eine freundliche Katze streicht dem Besuch um die Beine. Die Sozialpädagogische Wohnbegleitung wurde im Herbst 2017 als private Einrichtung eröffnet und bietet einen Rahmen für jeweils zwei Frauen, die hier einige Wochen oder Monate leben. Hier erhalten sie Trainingsfelder für den Alltag mit enger oder weniger enger Anleitung und Begleitung. Zugewiesen werden die Mütter über Sozialdienste, eine KESB bzw.Familiengerichte. Eine 24-Stunden-Betreu-ung gibt es nicht, aber einen Pikettdienst und ein Notfallzimmer.
Im Moment leben im MuKiWo, der Sozialpädagogischen Wohnbegleitung für Mütter mit einer kognitiven oder psychischen Beeinträchtigung,zwei Frauen:Dies chwangere Jana mit ihrer halbwüchsigen Tochter und Priska (beide Namen geändert), die kurz vor dem Austritt aus der Wohngruppe steht. Ihr Zimmer wird bald neu bezogen werden. Priska ist kurz nachd er Geburt, vor rund drei Monaten, mit ihrem kleinen Buben hierhergekommen; In der betreuten Wohngemeinschaft konnte sie Sicherheit im Umgang mit dem Kleinen gewinnen. Die 33-Jährige ist IV-Bezügerin und hat eine Beistandschaft. Sie weiss um die kognitiven Einschränkungen, die sie mitbringt, und sie betont, dass sie ihrem Sohn möglichst gute Startbedingungen bieten möchte.

Abtreibung empfohlen

«Ich habe mir immer gedacht, ich würde Kinder haben und sie gemeinsam mit meiner Freundin, die ebenfalls Mutter ist,grossziehen», erzählt sie. Vom Sozialdienst habe sie keine Unterstützung erhalten,sondern nur Stress erlebt, wie sie erklärt:«Ich war schon einmal schwanger und habe mein Kind verloren, das hatte sichermit dem ganzen Druck zu tun. Auch beimeiner zweiten Schwangerschaft war es von Anfang an stressig. Immer wieder hatman darauf gedrängt, ich solle mein Kind abtreiben, sogar noch, als die Schwangerschaft recht weit vorangeschritten war.Und jetzt, wo mein Sohn auf der Welt ist,geht das weiter – jetzt sagt man mir, ichsolle dafür sorgen, dass ich kein zweites Kind kriege.» Fürs Erste kehrt die junge Mutter jetzt dann in die Wohnung zurück,wo sie vorher schon lebte. Die Sozialpädagogische Familienbegleitung sorgt für die Nachbetreuung; der kleine Sohn kann zweimal in der Woche in eine Kita gehen.Mit dem Vater des Kindes hat Priska guten Kontakt – «aber er arbeitet viel, kann sich nicht um unseren Sohn kümmern», sagt sie. Mit ihren Eltern verkehrt sie nicht mehr.

Spannungsfeld zwischen Elternschaft und Kindeswohl

In den drei Monaten im MuKiWo hat Priska viel gelernt, sowohl über Kinderpflege wie auch über die Planung des Alltags für sich und das Baby. Das ist das Rüstzeug, das Andrea Müller als Sozialpädagogin den Bewohnerinnen mit gibt.Die Geschäftsführerin und Initiantin von MuKiWo sagt: «Meine Vision einer Lebensgemeinschaft auf dem Bauernhof für Mütter mit einer kognitiven oder psychischen Behinderung hat den Anstoss zur Gründung der Sozialpädagogischen Wohnbegleitung gegeben.»

Dass sie diese Vision umsetzen konnte,erfüllt sie mit Befriedigung. Sie hat 2011 an der Höheren Fachschule Sozialpädagogik hsl Luzern eine Diplomarbeit über Elternschaft bei einer kognitiven Beeinträchtigung geschrieben.Nach einem theoretischen Teil lässt die Autorin auch eine Mutter mit kognitiver Behinderungund ihren Sohn zu Wort kommen: Zwei Interviews, welche die ganze Bandbreite von Nähe, Zuneigung und Schmerz zeigen.Einer dauerhaften und verlässlichen Begleitung der jungen Eltern kommt nach Andrea Müllers Erfahrung eine zentraleBedeutung zu: Es braucht Wohnformen,wo sich Eltern und Kinder wohlfühlen, wo sie unterstützt werden und ein Selbstwertgefühl entwickeln können, indem sie das Gedeihen ihrer Kinder erleben und im Zusammenleben mit den Kindern selber Entwicklungsschritte machen.

Kinderwunsch – auch für insieme ein Thema

Seit 2008 koordiniert die Fachstelle Lebensräume von insieme Schweiz das Netzwerk Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung. «Ein Kinderwunsch kann als Thema in jedem Leben auftauchen und ist somit auch seit jeher Thema bei insieme. Wie auch in der Gesellschaft hatbei insieme, der Organisation der Elternvereine für Menschen mit einer geistigen Behinderung,die Auseinandersetzung mit Kinderwunsch und Elternschaft in den letzten Jahren zugenommen» erklärt Simone Rychard, auf der Fachstelle tätige Psychologin. Als Thema in den Beratungen an der Fachstelle sei der Kinderwun schzwar präsent, aber mache doch nur einen sehr kleinen Anteil aus.»
Werdende Eltern mit Lern- oder geistiger Beeinträchtigung stehen oft bereits vor und vor allem auch nach der Geburt ihres Kindes unter Beobachtung und werden aus dem Umfeld häufig mit Bedenken, Besorgnis oder auch Ablehnung konfrontiert», konstatiert Simone Rychard. «Bereits während der Schwangerschaft erleben die Mütter und Väter, dass ihre elterlichen Fähigkeiten beurteilt und infrage gestellt werden, und nach der Geburt sollten sie die entsprechenden Kompetenzen quasi sofort beweisen können.» Damit einerseits das Kindeswohl sichergestellt, andererseits aber auch die notwendige Unterstützung angeboten werden könne,werde von Eltern mit geistiger Beeinträchtigung zudem verlangt, dass sie verschiedensten Fach- und Begleitpersonen Zugang zu ihrem ganz privaten familiären Umfeld gewähren. «Somit erleben werdende und junge Eltern mit geistiger Beeinträchtigung besondere Herausforderungen, denen Eltern ohne Beeinträchtigung in der Regel nicht ausgesetzt sind.»

Flexible Unterstützung und mehr Mut

Dass junge Schwangere von den Behördenunter Druck gesetzt werden, einen Abbruch vornehmen zu lassen, wie es Priska im Gespräch erwähnte, hat Simone Rychard in ihren bisherigen Beratungen nicht angetroffen. Sie weiss jedoch von Situationen, in denen Personen aus dem professionellen, behördlichen oder auch familiären Umfeld einen Kinderwunsch nicht unterstützen respektive eine Schwangerschaft möglichst zu verhindern versuchen. Auch bekannt sind ihr frühe und wiederholte Hinweise auf das an erster Stelle stehende Kindeswohl und einen möglichen Obhutsentzug bei Nichterfüllung der elterlichen Pflichten, was den Charakter einer Drohung aufweisen könne.

Simone Rychard verweist auf die Begleitete Elternschaft, wie es sie in Deutschland gibt. «Den Aufbau eines entsprechenden Unterstützungsangebotes in der Schweiz erachte ich als dringend notwendig.Es braucht langfristige Unterstützungs- und Wohnmöglichkeiten, die ganz individuell auf die jeweiligen Familien ausgerichtet werden können. Die Entwicklung des Kindes hat zudem rasche Veränderungen der Ausgangslage zur Folge und verlangt deshalb ein hoch flexibles Unterstützungssystem. Im Weiteren braucht es aus meiner Sicht in Bezug auf Personen,die in einem institutionellen Umfeld leben, deutlich mehr Mut, Bereitschaft und auch Kreativität der Einrichtungen dazu,eine Begleitung auch bei einer anstehenden Elternschaft weiterzuführen.»

Porträtserie
Auf Augenhohe
Der junge Berner Fotograf Ruben Hollinger legt eine Serie von Bildern von Eltern mit einer kognitiven Beeintrachtigung und ihren Kindern vor Behutsam nahert er sich dem Alltag der Menschen, zeigt sie mit ihrem Kind zu Hause,beim Einkaufen oder auf dem Spielplatz Er habe versucht, die Portrats «in einer Atmosphare auf Augenhohe» zu schaffen, sagt er in einem Gesprach Entstanden sind die Fotos in Deutschland, im Raum Berlin-Brandenburg, woes das Netzwerk «Begleitete Elternschaft»(siehe Box «SEPIA-Studie») gibt und wo es moglich war, Mutter, Vater und ihre Kinder in ihrem Wohnumfeld zu fotografieren Ruben Hollinger hat aus seinen Bilder kein fertiges Fotobuch gemacht, vielmehr konnen Interessierte in Workshops das Buch selber binden,zum Beispiel im Rahmen eines Festivals odereiner Fotoausstellung, zwei langere Interviewserganzen die Bilder


Andrea Müller, «Im Spannungsfeld zwischen El-ternschaft und Kindeswohl. Braucht es sozialpäda-gogische Unterstützung, wenn Elternschaft durcheine geistige Behinderung erschwert wird?»Diplomarbeit, hsl, Luzern 2011.

 

Mehr dazu www benni ch undwww rubenhollinger ch
Die nachste Moglichkeit, einen Workshop zu besuchen, bietet sich am Wochenende vom 17 bis19 Mai im UNESCO-Gebaude in Naters (VS)Infos uber www jungfraualetsch ch/de/kontakt-wnf

SEPIA-Studie
Die Entwicklung von Kindern mit kognitiv beeinträchtigten Eltern

Die SEPIA-Studie (Studies an Parents and Parenting with Intellectual Disability), ein Projekt desSchweizerischen Nationalfonds an der Universität Fribourg, untersuchte im Zeitraum 2014 bis 2017 die Entwicklung von Kindern mit intellektuell beeinträchtigten Eltern.Ergänzend dazu wurde in Deutschland eine Studie über die Lebenssituation von Kindern und Eltern erstellt(SEPIA-D). Im Rahmen der SEPIA-Studie entstandzudem das Projekt «StoRCh», das dank einer lebensechten Simulationspuppe ein praxisnahes Übungsfeld für den Umgang mit einem Säugling bietet.

Die Häufigkeit und der Schweregrad von Entwicklungsstörungen bei Kindern von kognitiv beeinträchtigten Eltern sind bis jetzt wenig erforscht.Das gilt auch für die Faktoren, welche die kindliche Entwicklung beeinflussen können. Umso wichtiger ist die Grundlagenforschung, wie siedie SEPIA-Studie unternimmt.

Wie Dagmar Orthmann vom HeilpädagogischenInstitut der Universität Fribourg vergangenes Jahran einer Fachtagung ausführte, sind die Probleme, die intellektuell eingeschränkte Eltern beider Wahrnehmung ihrer Erziehungsaufgaben haben, eine Folge verschiedener Faktoren. Sind Mütter mit einer Behinderung in der Lage, adäquat auf die Bedürfnisse eines Babys, eines Kleinkinds einzugehen? Können sie pflegerische Leistungen erbringen, sind sie in der Lage, auf die emotionalen Bedürfnisse ihres Kindes einzugehen? Und können sie ihre Kinder im Schulalter unterstützen? Oftmals bringen Mütter (und Väter)mit einer Beeinträchtigung selbst soziale und familiäre Belastungen mit. Doch könnten Eltern mit Beeinträchtigungen, so die Autorin der Studie,Kompetenzen erwerben. Wichtig ist, dass Mütter,Väter und ihre Kinder eine verlässliche langfristige Begleitung im Alltag erhalten. Gesundheitliche, kognitive, soziale und emotionale Risiken können so minimiert werden. In Deutschland wird seit den 1990er-Jahren unter dem Begriff Begleitete Elternschaft eine spezifische Hilfsstruktur aufgebaut, die das Kindeswohl sichert und dauerhafte Lebensperspektiven für die Familien gewährleistet. In der Schweiz gibt es bis anhin keine solchen Strukturen.
http://fns.unifr.ch/sepiawww.begleiteteelternschaft.de