Koordination bei Sozialversicherungen

(Neue Zürcher Zeitung)

Gastkommentar von BRIGITTE PFIFFNERI

Ist es gerechtfertigt, dass ein Unfallopfer eher Leistungen von der Sozialversicherung erhält als ein Krankheitsopfer? Die obligatorische Unfallversicherung richtet bereits ab einer Invalidität von 10 Prozent Renten aus. Bei der Invalidenversicherung liegt hingegen die Einstiegshürde für eine Rente bei 40 PrOzent. Die Unfallversicherung kennt das stufenlose Rentensystem. Das bedeutet: Eine Invalidität von 16 Prozent ergibt eine Rente von 16 Prozent; somit entspricht der Grad der Rente dem Grad der Invalidität.

Weshalb diese Unterschiede? Erklären lassen sie sich mit der unterschiedlichen Entstehung der einzelnen Sozialversicherungszweige: Während die obligatorische Unfallversicherung aus der Fabrikhaftpflicht der Arbeitgeber entstanden ist und nur Arbeitnehmer versichert sind (Garantie des Lohnausfalls bei Betriebsunfällen und Berufskrankheiten), ist die spätere Invalidenversicherung eine Volksversicherung, bei der auch Lösungen für Klosterinsassen, für Nichterwerbstätige und Selbständigerwerbstätige zu schaffen waren. Die Leistungen der Unfallversicherung werden nach dem letzten Verdienst vor dem Unfallberechnet. Bei Vollinvalidität beträgt die Invalidenrente 80 Prozent des versicherten Verdienstes. Anderseits werden die IV-(wiedie AHV-)Renten nach Anzahl von Beitragsjahren, nach dem Verdienst und nach einer Rentenformel berechnet. Aus diesem Grund, so die Lehre, seien die beiden Versicherungsbereiche nicht vergleichbar.

Aber sollte es, trotz historisch bedingten Unterschieden, nicht auch Aufgabe des Gesetzgebers sein, die Dinge wenn immer möglich zu harmonisieren, zu vereinfachen? Je komplexer das schweizerische sozialversicherungsrechtliche Räderwerk ist, desto fehleranfälliger und auch unverständlicher erscheint es. Harmonisierung wäre indes weit mehr als die vom Nationalrat vorgeschlagene rein kosmetische Umbenennung von «Kinderrente» zu «Zusatzrente der Eltern», die ausser einem riesigen administrativen Aufwand rein gar nichts bringt.

Nach der letzten IV-Revision – der vierten in den letzten zehn Jahren – sollte nun auch in der Invalidenversicherung eine Spielart des stufenlosen Rentensystems eingeführt werden; aber nur beschränkt, nämlich im Rahmen einer Invalidität von 41 bis und mit 69 Prozent. Die hohe Einstiegshürde von 40 Prozent und damit die gewichtige Differenz zur Unfallversicherung soll bleiben- aus Kostengründen und weil «die Unfallversicherung weniger eingliederungswirksam» sei (Botschaft des Bundesrats). Letzteres erscheint mir fraglich. Wer mit Unfallversicherungen zu tun hat, weiss, dass diese schon sehr früh erfolgreich Eingliederungsmassnahmen in Gestalt von Case-Managements eingeführt hatten. Enge professionelle Begleitung der Unfallopfer hin zur Rückkehr an den Arbeitsplatz war und ist die Losung der schweizerischen Unfallversicherer.

Die Senkung der Rentenhürde in der Invalidenversicherungunter Beibehaltung des Ergänzungsleistungsanspruchs erst ab 40 Prozent Invalidität – würde zweifellos der Eingliederung dienen. Erst die Senkung dieser Hürde wäre Voraussetzung für ein durch-wegs stufenloses Rentensystem. Dabei müsste es kein Tabu sein,eine ganze Rente erst bei einer Invalidität von 80 Prozent (anstatt wie heute bei 70 Prozent) auszurichten. Hiergegen wurde im Parlament – grundsätzlich zu Recht – eingewendet, Invalide miteinem IV-Grad von 60 Prozent und darüber fänden nur erschwert Arbeit, weshalb diese Personen nicht zusätzlich schlechtergestellt werden dürften. Dabei geht vergessen, dass neben der Rente ein Anspruch auf Ergänzungsleistungen besteht.

Koordinationsbedarf bestünde auch bei der geforderten «Papizeit»: Im Rahmen des Bundesgesetzes zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung könnte die «Papizeit» integriert werden. Jedermann – ob kinderlos oder Eltern – hätte im gleichen Umfang Anspruch auf eine zeitlich bestimmte jährliche Betreuungszeit. Bei einer solchenLösung müssten die neu eingeführten, letztlich unklaren Begriffe «gesundheitlich schwer beeinträchtigtes Kind», «schwer vorhersehbare Folgen» bzw. «erhöhter Bedarf an Betreuung» nicht erst durch die Rechtsprechung geklärt werden. Auch hier: Vereinfachung, Schematisierung täte not.

Brigitte Pfiffner war bis Ende 2019 Bundesrichterin; von 2017 bis 2019 war sie Präsidentin der Zweiten sozialrechtlichen Abteilung.