Lehrer trotz allem

(NZZ amSonntag)

Lucien Le ist körperlich und kognitiv behindert. Dennoch studiert er an der Pädagogischen Hochschule, um später mit Kindern zu arbeiten. Das Projekt soll Schule machen.
Von René Donzé

Das Mädchen weint. Im Lärm der spielenden Kinder geht sein Wimmern beinahe unter. Sofort stellt Lucien Le den Besen zur Seite, mit dem er eben noch am Boden verstreute Plastikperlen zusammengewischt hat, und eilt zum Kind. Sein Gang ist etwas staksig, leicht spastisch, der Oberkörper vorgebeugt. Lucien Le hat Cerebralparese und ist sowohl körperlich als auch kognitiv beeinträchtigt. «Was ist passiert?», fragt er und legt seine Hand auf ihre Schulter.

Le befindet sich im Praktikum in der Grundstufe der Gesamtschule Unterstrass in Zürich. Dass er einmal hier sein und Kinder betreuen könnte, hätte sich vor 30 Jahren niemand ausmalen können. Bei der Geburt wurde die Sauerstoffversorgung seines Gehirns unterbrochen, es erlitt irreparable Schäden. «Der Arzt stellte eine düstere Prognose», sagt Mutter Christina Le Kisdaroczi. «Luc werde immer im Rollstuhl sitzen und Hilfe brauchen.»

Viel unverblümter formuliert es der Betroffene selbst. «Der Doktor sagte, ich werde immer ein Krüppel sein», sagt er und lacht. «Doch er hat sich getäuscht.» Stolz, Trotz und Zufriedenheit tönen aus seiner Stimme. «Ich bin Teil dieser Gesellschaft, einfach etwas langsamer als die anderen.» Zuweilen stockt er, sucht nach einem Wort. Seit einem Jahr studiert Le am Institut Unterstrass, das zur Pädagogischen Hochschule Zürich gehört, gemeinsam mit angehenden Lehrerinnen und Lehrern. Sein Ziel «Ein richtiger Job.»

Widerspruch auflösen

Hochschulstudium und kognitive Beeinträchtigung, wie geht das zusammen? Matthias Gubler lächelt. Er sitzt in seinem Büro im zweiten Stock des Instituts und sagt: «Ja, das ist ein Widerspruch. Ich weiss.» Genau das scheint ihn zu reizen. «Unsere Hochschulen sind hoch selektiv», sagt der Institutsleiter. An dieser Schranke rüttelt er – angestossen von Studenten und Dozentinnen aus dem eigenen Haus – mit dem Projekt «colsiv». Er will pro Jahrgang zwei Menschen mit Behinderung zu Assistenten ausbilden. Gubler, selber Vater eines Kindes mit Downsyndrom, sagt: «Alle sprechen von lebenslangem Lernen. Und ausgerechnet bei Behinderten soll nach der Anlehre Schluss sein? Sie brauchen doch umso mehr Zeit.»

Auch bei Lucien Le war das so. Nach der Sonderschule absolvierte er eine zweijährige Ausbildung und arbeitete dann in einer geschützten Werkstatt: Jeweils hundert Zahnstocher steckte er zuerst in ein Brett und danach in eine Tüte. «Ich musste immer die gleiche Sache machen, darum hat die Leistung meines Gehirns nachgelassen.» Später war er mit Freude für die Flaschenreinigung einer Kleinbrauerei zuständig Doch diese wurde automatisiert. «Dann hat es mich nicht mehr gebraucht.»

Mit Humor dabei

Am Institut Unterstrass ist er gefordert. An diesem Morgen präsentiert er mit einer Mitstudentin und einem Mitstudenten den Leistungsnachweis für das Fach Mensch, Natur, Gesellschaft: Einen Zeitstrahl, auf dem die Entwicklung der Kommunikations-mittel dargestellt wird. Er hat den Teil über das Fernsehen recherchiert und aufgeschrieben. Die anderen den Rest. «Natürlich bedeutet es für uns mehr Arbeit», sagt der Mitstudent. «Aber es bringt auch mega viel.» Man lerne zu vereinfachen, auf Bedürfnisse Schwächerer einzugehen. Und man lache oft. «Er hat einen guten Humor und ist voll dabei.»

Doch der Aufwand ist gross. Für Mitstudenten, für die Dozenten, für die Projektleitung und für die Schulleitung. Das Programm muss für jeden Einzelfall angepasst werden. Es gibt weder Normstudium noch Erfahrungswerte. Schweizweit ist das Projekt einmalig. Anders in Italien, wo Behinderte als Spielassistenten im Kindergarten eingesetzt werden. Doch dort hat die schulische Integration bereits viel früher eingesetzt als in der Schweiz. Vereinzelt gibt es auch in anderen Ländern Versuche, erst kürzlich haben sich Fachleute zu einem Kongress in Salzburg getroffen.

Inzwischen hat sich das Mädchen im Kindergarten beruhigt. Lucien Le bastelt mit zwei Knaben Weihnachtssterne aus Sandwichtüten, nachdem ihn Lehrerin Tanja Rensch-Blattner instruiert hat. Dann hilft er einem Buben, der abgeholt wird, beim Schuheanziehen. Später assistiert er bei der Pausenaufsicht.

Das Praktikum an der Grund-stufe Unterstrass ist bereits sein drittes. In Zürich Wollishofen hat er mit Kindergärtnern, in Wetzikon mit Erst- und Zweitklässlern gearbeitet. Sie haben ihm Texte vorgelesen, Vorträge mit ihm geübt, er hat sie abgehört und korrigiert: «Ich sagte: Du musst das den Leuten erzählen, nicht dir selber. Oder: Du schaust zu viel aufs Blatt.» Probleme macht ihm eigentlich nur das Rechnen. «Vor allem, wenn es über tausend geht.» Und er musste sich seinen Jugendslang abgewöhnen, sagt Lucien Le. Schliesslich sei er jetzt ein Vorbild.

Ob das Beispiel Unterstrass Schule macht, ist offen. Die Kosten von rund150 000 Franken für die ersten zwei Jahre mit drei Stu-denten werden von Gönnern und Stiftungen getragen. Längerfristig ist die Finanzierung noch nicht gesichert. Die PH Zürich steht abwartend und beobachtend daneben: «Zurzeit stellt sich die Frage nach einer Übernahme des Projekts in das Ausbildungsangebot der Pädagogischen Hochschule Zürich nicht», sagt Rektor Heinz Rhyn.

Der Lehrerverband Schweiz beurteilt das Projekt skeptisch. Die Schulen seien stark genug gefordert mit der Integration von behinderten Schülern, sagt Zentralsekretärin Franziska Peter-hans. Der Einsatz von Assistenzen mit Beeinträchtigung würde eine intensive Begleitung durch die Lehrer bedingen. «Wir müssen schauen, dass wir die Schu-len, die Lehrpersonen und auch die Kinder nicht überbelasten.» Sie bezeichnet das Projekt zwar als «schöne Idee»: «Mit der heutigen Realität und mit den sehr beschränkten Ressourcen in der Schule hat sie aber nichts zu tun.»

Wie und wo die Absolventen von « colsiv» in den Schulen arbeiten werden, ist noch offen. «Sie erhalten je nach persönlichen Fähigkeiten einen massgeschneiderten Abschluss», sagt Institutsleiter Matthias Gubler. In der Regel dauert die Ausbildung drei Jahre. Er ist zuversichtlich, dass Lucien Le eine Anstellung findet. Und Praktikumslehrerin Rensch sagt: «Lucien hätte ich jederzeit gerne an meiner Seite im Schulzimmer.»

NZZ aS.ch
Lucien Le erzählt
Sehen und hören Sie im Video, wie
er mit den Kindern arbeitet.
nzz.as/lehrer

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«Ich bin Teil dieser Gesellschaft, einfach etwas langsamer als die anderen»: Lucien Le im Praktikum an der Gesamtschule Unterstrass. (Zürich, 13.12.2018)

 

Integration in die Berufswelt «Soziale Tätigkeiten gewinnen für kognitiv Behinderte an Bedeutung» Weil die Digitalisierung einfache Tätigkeiten verdrängt, braucht es neue Jobs für Behinderte, sagt Uni-Professor Stephan Böhm

NZZ am Sonntag: Sie setzen sich für die Inklusion von Menschen mit Behinderung im ersten Arbeitsmarkt ein. Warum?

Stephan Böhm: Weil es Vorteile hat für alle. Für Menschen mit Beeinträchtigung ist es wichtig,ass sie sinnvolle Aufgaben haben und ins soziale Netz eingebettet sind. Die Forschung zeigt auch, dass die Innovationskraft in Teams steigt, wenn Menschen mit und ohne Beeinträchtigung zusammenarbeiten.

Befördert oder hemmt die Digitalisierung die Integration?

Beides. Für die körperlich oder sensorisch Beeinträchtigten gibt es vermehrt Hilfsmittel, etwa Computer, die Texte vorlesen, oder Geräte, die Bewegungen unterstützen. Für Menschen mit kognitiven Behinderungen hingegen kann es schwieriger werden, eine Stelle zu finden, da einfache Tätigkeiten zunehmend automatisiert werden.

Wenn diese wegfallen, wo sehen Sie neue Einsatzgebiete für kognitiv Beeinträchtigte?

Soziale Tätigkeiten, die nicht durch Computer ersetzt werden können, gewinnen für sie an Bedeutung. Hier können sie wertvolle Dienste leisten, wie auch das von Ihnen beschriebene Beispiel am Institut Unterstrass zeigt. Da tun sich neue Nischen auf, aber auch in der Pflege oder in der persönlichen Bedienung in Läden, Restaurants und Hotelbetrieben.

Wir müssen vermehrt die besonderen Fähigkeiten der Menschen fördern.

In Vorarlberg gab es ein Projekt, in dem Jugendliche mit Trisomie 21 im Bereich Kinderpflege ausgebildet wurden. Aus der Privatwirtschaft kenne ich jedoch keine Beispiele, in denen bewusst Menschen mit kognitiver Einschränkung eingestellt werden.

Es gibt Softwarefirmen, die autistische Menschen anstellen.

Das stimmt, doch da geht es um eine positiv konnotierte Art der Behinderung. Solchen Menschen werden in gewissen Bereichen sogar überdurchschnittliche Begabungen unterstellt, etwa im analytischen Denken und bei der Konzentrationsfähigkeit. Es handelt sich dabei also nicht um disability, sondern um different ability, also andere Fähigkeiten.

Haben nicht auch kognitiv Beeinträchtigte andere Stärken, die man nutzen kann?

Absolut. Ich glaube, dass wir vermehrt besondere Fähigkeiten in den Menschen entdecken und fördern sollten. Das gilt aber auch bei nichtbehinderten Menschen. Denn nur dann haben wir langfristig eine Chance gegen Algorithmen und Roboter. Wenn Leute an ihren Stärken arbeiten, erreichen sie bessere Leistungen und sind zufriedener, als wenn man auf ihre Schwächen fokussiert.

Integration ist aber auch mit grossem Aufwand verbunden

In einem wohlhabenden Land wie der Schweiz sollte dies kein Thema sein angesichts des Nutzens für die Betroffenen und die Gesellschaft. Auch volkswirtschaftlich lohnt es sich, wenn Menschen mit Behinderung ihre Fähigkeiten produktiv einbringen. Zudem werden die Sozialversicherungen entlastet, wenn die Leute ihr Geld selber verdienen.

Andere Länder haben Quoten für Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung. Ein Modell auch für die Schweiz?

Die Schweiz hat auch ohne solche Vorschriften eine der höchsten Beschäftigungsquoten von Menschen mit Behinderung weltweit. In Österreich oder Deutschland ist die berufliche Integration trotz Quoten geringer als bei uns. Man könnte aber auch in der Schweiz noch mehr tun.

Wer sollte mehr tun?

Jedes Unternehmen ist gefordert. Vor allem aber sollten sich öffentliche Institutionen, Verwaltungen, Schulen als Vorbilder hervortun. Da gibt es durchaus noch viel Luft nach oben.
Interview: René Donzé

Stephan Böhm