«Selbstbestimmtes Handeln durch verständliche Informationen»

(OberseeNachrichten)

Kurze Sätze, keine Fremdwörter. «Leichte Sprache» ist wichtiger, als man denkt. Denn: Ungefähr ein Zehntel der Schweizer Bevölkerung kann keinen Zeitungsartikel lesen. Die ON sprachen mit Corina Bichsel, Leiterin Büro für «Leichte Sprache» von Pro Infirmis Zürich. Sie antwortet in einfacher Sprache (siehe Kasten)

Bitte erklären Sie zunächst das Konzept.Die «Leichte Sprache» ist einfach und gut verständlich. Sie eignet sich für alle Menschen, die Mühe mit dem Lesen haben. Zum Beispiel: Menschen mitkognitiver Beeinträchtigung, Migrationshinter grund, einer Demenz Erkrankung oder Gehörlose.

Ein paar Grundregeln?
Kurze, einfache Hauptsätze. Keine Nebensätze. Keine Silbentrennung.
Genügend grosse Schriftgrösse, ausreichend grosser Zeilenabstand.
Fremdwörter vermeiden oder sonst erklären.

Wie viele Menschen sind in der Schweiz auf «Leichte Sprache» angewiesen?
Gemäss Studien sind es 800000 Menschen. Sie können zum Beispiel einen Artikel in einer Tageszeitung nicht lesen.

Richtet sich das Konzept in erster Linie an «Lernschwache» und Behinderte?
Grundsätzlich profitieren alle voneiner leicht verständlichen Sprache.Beim Schreiben in «Leichter» oder einfacher Sprache muss man sich auf das Wesentliche konzentrieren. Auch die Zusammenhänge
müssen klar sein. Das hilft in jedem Text für das Verständnis.

«Alle profitieren von Leichter Sprache.»

Sie bemühen sich, auch offizielle Stellen und Behörden zu motivieren, ihre Unterlagen und Dokumente in «Leichte Sprache» übersetzen zu lassen. Sind Sie erfolgreich?
Wir haben verschiedene Kunden in der Verwaltung von der Stadt Zürich, vom Kanton Zürich und anderen Kantonen. Es gibt aber noch viele Ämter und Behörden, die von «Leichter Sprache» profitieren könnten.

Wurde bei Ämtern und staatlichen Einrichtungen die Notwendigkeit einer Vereinfachung der Unterlagen und Dokumente erkannt?
Das Thema «Leichte Sprache» ist für viele noch neu. Wenn wir sie erklären, sind die meisten sehr interessiert. Sie finden dasKonzept sinnvoll. Oft fehlt aber das Geld für die Übersetzung.

Ihr Motto lautet «Alle sollen alles verstehen können». Sollte das nicht eigentlich selbstverständlich sein?
Natürlich. Genauso wie alle Menschen in alle öffentlichen Gebäude gelangen sollten, ob sie nun im Rollstuhl sitzen oder nicht. Verständliche Informationen sind der Grundstein für selbstbestimmtes Handeln.

Warum, denken Sie, ist in unserer Gesellschaft eine schwierige Sprache Standard?
Mit schwieriger Sprache kann manviel sagen, ohne viel Platz zu brauchen.Verdichtetes Schreiben spart Platz. Es spart aber beim Lesen keineswegs Zeit. Schwierige Sprache ist aber auch wichtig. Wortspiele und Metaphern haben genauso ihren Platz wie juristische
Formulierungen. Es kommt immer darauf an, für wen ein Text bestimmt ist und wo er eingesetzt wird.

Ist es wirklich möglich, sehr schwierige Texte – zum Beispiel Gesetze – vollständig in «Leichte Sprache» zu übersetzen, ohne dass Präzision und juristischer Gehalt verloren gehen?
Bei juristischen Texten ist die «Leichte Sprache» eine wertvolle Ergänzung – sie ersetzt aber den juristisch gültigen Text nicht. Juristische Feinheiten sind in «Leichter Sprache» nur sehr schwer abzubilden. Es ist aber wichtig, dass juristische Dokumente in «Leichter» oder einfacher Sprache erklärt werden. Man will doch verstehen, was man unterschreibt!

Welche Erlebnisse haben Sie mit Menschen gemacht, die dank der «Leichten Sprache» vielleicht sogar zum ersten Mal einen Text verstehen?
Sie freuen sich natürlich sehr. Und sie fühlen sich endlich ernst genommen und verstanden.

«Sie fühlen sich ernst genommen und verstanden.»

Sind eher «untere» soziale Schichten auf die «Leichte Sprache» angewiesen, oder gibt es den Bedarf über die gesamte Gesellschaft verteilt?
Wir stellen fest: Der Bedarf ist völlig unabhängig von der sozialen
Schicht, in der wir leben.

Zu den Regeln: Bleiben Satzzeichen wie bei der normalen Sprache?
In der «Leichten Sprache» verwendenwir Punkt, Komma, Fragezeichen und zum Teil Ausrufezeichen. Es gibt keine Anführungsund Schlusszeichen, keine Klammern, keinen Strichpunkt oder Gedank enstrich. In der einfachen Sprache sind einige dieser Zeichen er laubt, so lange der Text verständlich bleibt.

Wie viel «Wert» wird auf Rechtschreibung gelegt?
Grundsätzlich gelten die Rechtschreibregeln. Bei längeren Wörtern setzt man aber zum Beispiel mehr Bindestriche, damit ein Wort leichter lesbar ist.

Was kann man machen, wenn es schlicht kein kurzes oder einfaches Wort für etwas oder einen Sachverhalt gibt?
Dann kann man versuchen, das schwierige Wort einfach zu erklären.

«Jeder soll doch verstehen, was er unterschreibt.»

Wie kann man nach der Übersetzung wissen, ob ein Text «leicht genug» geworden ist?
Wir lassen den Text von einer Gruppe von Menschen mit Leseschwäche prüfen. Nur sie können beurteilen, ob der Text verständlich ist.

Für Interessierte: Brauchen Sie noch Übersetzer?
Im Moment haben wir ein gutes Team von Übersetzerinnen, die für uns arbeiten. Wir suchen aber immer Prüfende!

Michel Wassner

Einfach und leicht
Pro Infirmis erklärt «Leichte Sprache» wie folgt: So schreiben und sprechen, dass es alle gut verstehen. Es handelt sich dabei um ein klares Konzept mit definierten Regeln. Das Interview ist allerdings in einfacher Sprache abgefasst, die ein wenig schwieriger ist. Dies zugunsten der Lesbarkeit.