Leute starren oder rufen die Polizei

(Berner Zeitung / Ausgabe Stadt+Region Bern)

Sie können keine Maske tragen Die Corona-Lage ist kritisch, die Regeln sind verschärft.Aber Menschen, denen die Befreiung von der Maskenpflicht attestiert wurde, fühlen sich nicht frei.


«Ohne Maske wirst du in der Öffentlichkeit als Gefahr betrachtet»: Manuela Meier fürchtet sich nicht vor Covid-19.Fotos: Privatarchiv

 

Alexandra Kedves
Die allgemeine Maskenpflicht: Die einen lässt sie buchstäblich aufatmen, denn angesichts der steigenden Infektionszahlen und Hospitalisationen haben sie sich schon lange einen solchen Schritt gewünscht. Andere lässt sie aufschreien.

Aber für die, welche aus medizinischen Gründen keine Maske tragen können – selbst wenn sie die Schutzmasken an und für sich befürworten würden -, ist die Situation kompliziert. Wo immer sie sich bewegen im öffentlichen (Innen-)Raum,folgen ihnen schräge Blicke,freundlich gemeinte Masken-Angebote oder weniger freundliche Bemerkungen. Wir haben mit Betroffenen gesprochen.

Die Mitfühlende:Gabriele S., 72

Vor 20 Jahren verlor sie den Gebrauch ihrer rechten Hand bei einem Arbeitsunfall als Krankenschwester. Es folgte eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus,die nicht ausheilte und bei ihr mit einem ausgeprägten Erschöpfungssyndrom -der chronischen immun-neurologischen ME/CFS-Erkrankung -einhergeht. Alles keine gute Ausgangslage in einer Pandemie, die besonders ältere Menschen und solche mit Vorerkrankungen betrifft.

So hat Gabriele S. es zu Beginn zweimal mit einer Maske probiert. Atemnot und eine langanhaltende allergische Hautreaktion stellten sich ein, der Hausarzt stellte ihr das Attest zur Befreiung von der Maskenpflicht aus. Doch die Durchsagen im Zürcher Tram, die recht energisch zum Maskentragen aufforderten, hätten sie ziemlich belastet und in den Wagen Spannung erzeugt, erzählt Gabriele S.

«Leute starrten zu mir hin;Kinder wurden eilig weggezerrt.Einmal schriee in Passagier wegen mir . Das war nicht schön.» Sie sei froh,dass sich das mit den Durchsagen geändert habe, die Spannung im ÖV habe merklich nachgelassen. Und die Seniorin hat kein Problem damit, das Attest vorzuweisen – wenn man sie anständig darum bittet.

Sie kennt jedoch ältere Menschen, die, trotz Attest, im Ladenoder ÖV lieber kurz die Maske aufsetzen, statt sich rechtfertigen zu müssen. Und manche blieben lieber ganz daheim. «Das tut mir richtig weh für sie. Viren wird es immer geben, und unser Leben ist endlich. Mich bekümmert es,wenn man den Menschen so Angst macht. Für das Immunsystem – auf das viel mehr fokussiert werden sollte – sind Mut und Lebensfreude gesünder.» Alle, die eine Maske tragen müssen, hätten ihr Mitgefühl.

Die Verweigerin:Barbara Müller, 57

Die Thurgauer SP-Kantonsrätinhat im Frühling kurz versucht,eine Maske zu tragen. Doch ihrwurde schwindlig: Es seien die Spätfolgen ihrer zentralen Lungenembolie von 2007, die ihr zu schaffen machten, berichtet sie. Herz und Lunge seien angeschlagen: «Es kann passieren,dass ich kurz das Bewusstsein verliere oder, schlimmstenfalls, kollabiere.»

Auch psychisch seien Masken für Leute mit Erstickungserfahrung schwer erträglich. Zudem schränke die Maske ihre ohnehin schwache Sehfähigkeit weiter ein; die von einer Erbkrankheit versehrten Augen beginnen zu tränen. Die promovierte Geologin hat ein Attest, das sie vonder Maskenpflicht befreit. Trotzdem kam es im ÖV – den sie täglich nutzt – zu Auseinandersetzungen samt juristischem und auch medialem Nachspiel. Nicht nur seien einige Mitreisende unfreundlich, gar tätlich geworden.Sondern die Zugbegleiter hätten seinerzeit geglaubt, auf dem Vorweisen des Attests bestehen zukönnen. «Irrtümlicherweise, wiedie SBB inzwischen eingeräumt haben», hält Barbara Müller fest,die sich hartnäckig weigerte, das Papier zu zeigen.

Aber wieso das Attest verstecken? Für Barbara Müller handelt es sich da um eine grundsätzliche Frage: Die Covid-Verordnung gebe den SBB nun mal nicht das Recht, solche vertraulichen Daten einzusehen.Ausserdem bestehe ein Missbrauchsrisiko. «Selbst wenn die Diagnose nicht festgehalten ist,so stehen doch der Arzt drauf und sein Fachgebiet.» Der Arzt könnte belästigt, der Attestinhaber diskriminiert werden – ein Zusatzstress für ohnehin eingeschränkte Menschen.

Dass Jugendliche in Clubs ihre Identitätskarte präsentieren müssen oder Behinderte, die beispielsweise einen vergünstigten Eintritt ins Museum wünschen,ihren IV-Ausweis: Das ist für die Kantonsrätin etwas anderes.Nämlich klar «gesetzlich gere-gelt». Es würden auch keine konkreten Krankheiten offengelegt.Und wer den IV-Ausweis nicht vorlegen wolle, könne einfach auf die Vergünstigung verzichten.

Barbara Müller, die schon eine Menge bewegt hat in ihrem Leben, hat einen Vorschlag parat: Die SBB könnten «die Maskenbefreiung auf dem Swiss Pass einlesen. Dann würde jeder Zugbegleiter die Befreiung registrieren, ohne weitere Informationen zu bekommen. Oder der Bund könnte ein offizielles Formular für die Maskenbefreiung ausstellen, das man statt des Attestes beim Arzt erhält.Man hat im anfänglichen Chaos nicht überlegt, wie sensibel so ein Attest ist.» Ob die Masken als solche, gerade auch angesichts der oft falschen Handhabung,überhaupt Schutz bieten, ist für die Kantonsrätin nicht ausgemacht.

Die Furchtlose:Manuela Meier, 41

Die Musiklehrerin, die an diversen Primarschulen in Winterthur arbeitet, gehört zu jenen Menschen, die Mühe mit der Maske haben. Sie leidet an Morbus Menire, einer Krankheit, die schubweise auftritt und plötzlichen Drehschwindel auslöst,weshalb Meier schon schlimm gestürzt ist. Als im Juli die Maskenpflicht im ÖV und in Läden eingeführt wurde, genoss sie gerade eine lange symptomfreie Phase – bis sie einen ersten Versuch mit der Maske startete. Sofort überwältigte sie ein heftiger Schwindel.

Dieses Erlebnis triggerte Ängste, und bei Stress melden sich die Morbus-Menière-Symptome verstärkt: ein Teufelskreis.Manuela Meier vermutet, dassdie Rückatmung des Kohlendioxids für sie das Problem ist.Monatelang behalf sie sich mit Schummeln: Sie trägt die Maske stets über dem Mund, aber nicht über der Nase. Bis heute: Auch für Menschen mit Attest hält sie das für die beste Lösung, falls sie irgendwie realisierbar ist.

«Ohne Maske wirst du in der Öffentlichkeit als Gefahr betrachtet. Man wird zur Zielscheibe von Blicken und fühlt sich sehr unwohl – fast wie ein Schulkind, wenn es seine Hausaufgaben nicht gemacht hat und Bestrafung droht. Es ist seltsam: Wann haben sich alle in Polizisten und Lehrer verwandelt?»

Die Maske nicht ganz ordnungsgemäss zu tragen, habe sie dagegen meist vor direkten verbalen Angriffen geschützt. Allerdings nicht im Eingangsbereich ihres Zürcher Lieblingshallenbads, wo sie bereits zweimal zurechtgewiesen wurde. «Das ist beinahe wieder lustig: Im Wasser muss man ja keine Maske tragen, obwohl sich über den schweratmenden Schwimmern die Aerosole sammeln und man manchmal recht dicht aufeinander schwimmt.»

Um sich selbst macht sich Manuela Meier keine Sorgen. Als sportliche Lehrerin von Primarschulkindern sei sie seit Jahren ständig mit allen möglichen Viren konfrontiert und dadurch abgehärtet. Und die Mortalitätsrate der Covid-19-Erkrankung erschrecke sie nicht; manche Infektion, die sie früher durchgestanden habe, sei sicher gefährlicher gewesen. Zudem achte sie sehr darauf, keine Risikopersonen zu gefährden und Abstände einzuhalten.

«Als Lehrerin müsste man sich prinzipiell immer von allen anderen Erwachsenen wegsperren – wenn man die Risikolage in diesem Sinn zu Ende denkt.»Die einzige wirkliche Furcht der engagierten Musiklehrerin ist,dass man ihr die geliebte Arbeit nehmen könnte – falls die Maskenpflicht auch für PrimarschulLehrpersonen ausnahmslos und strikt zur Anwendung käme. Das wäre für sie psychisch und finanziell ein Schlag.


Barbara Müller, SP-Kantonsrätinim Thurgau, zeigt Zugbegleitern das Attest lieber nich

 

Inclusion Handicap:Anfragen zuhauf

Marc Moser,Kommunikations-verantwortlicher von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen,bestätigt, dass sich die Situation verschärft hat. Ihre Rechtsberatung erhalte mehr Anfragen. In manchen Fällen sei Menschen ohne Maske trotz Attest der Zutritt zu Läden oder Bildungseinrichtungen verwehrt worden.

Zu den Gründen für eine Maskenbefreiung zählen motorische Probleme, die das An- und Ausziehen der Maske verunmöglichen, Lungenkrankheiten, Autismus. Betroffene seien so verunsichert, dass sie sich trotz Attest nicht mehr in den ÖV wagten.

«Was wir mit Sorge beobachten,sind Atteste, die aus Gefälligkeit oder ideologischen Gründen ausgestellt werden», sagt Moser.«Sie werfen ein schlechtes Licht auf alle Attestinhaber. Das dient denen, die tatsächlich keine Maske tragen können, nicht.»(ked)