Liebe auch für das gesunde Kind

(Schweiz am Wochenende / Luzerner Zeitung)

Dass die Kindheit mit einem beeinträchtigten Geschwister Spuren hinterlässt, wird oft zu spät klar. Hilfe tut not.


Die Liebe zwischen Geschwistern ist gross. Nicht zuletzt deshalb brauchen sie manchmal auch einzeln
Unterstützung, damit keines zu kurz kommt. Symbolbild: Getty

 

von Susanne Holz

Sabrina, heute 38, wuchs mit einem schwerst behinderten Bruder auf, der eineinhalb Jahre älter war. Wegen Komplikationen während der Geburt sass der Bruder ein Leben lang im Rollstuhl und war geistig und körperlich stark beeinträchtigt. Sabrina half schon als Kind bei der Pflege mit; beim Waschen, Wickeln, der Gabe von Essen und Trinken oder beim Trösten. Heute sagt sie: «Meine Kindheit war nicht einfach. Das wurde mir aber erst als erwachsener Frau bewusst. Als ich mich plötzlich zu fragen begann, woher gewisse Probleme kommen, die ich habe.»

Sabrina erzählt, dass sieihren Bruder, der mit 26 Jahren starb und nur die letzten zwei Jahre seines Lebens im Heim verbrachte, sehr geliebt habe: «Als wir einmal ausnahmsweise verreisten und ihn in fremde Betreuung geben mussten, war das schrecklich belastend für meine Eltern und mich.»

Probleme behält sie für sich, die Mutter hat genug Sorgen

Mutter, Vater, Schwester – das Leben eines jeden von ihnen war auf den Bruder fokussiert. Einer musste immer zu Hause sein. Der Bruder weinte oft, auch nachts. Sabrina erklärt sich ihre beständigen Schlafstörungen inzwischen auch mit dem gestörten Schlaf in ihrer Kindheit. Sie musste früh erwachsen werden, früh selbstständig sein, alles früher können als andere Kinder. Hatte sie Probleme, behielt sie diese für sich – die Eltern hatten schon genug Sorgen. Die Mutter kümmerte sich aufopferungsvoll um den Bruder, der Vater arbeitete sehr viel, um beispielsweise den Umbau der Wohnung in eine behindertengerechte Wohnung zu finanzieren. «Meine Eltern wollten immer alles alleine hinbekommen», blickt die 38-Jährige zurück, der lange nicht klar war, dass sie vor allem als Teenager mehr Aufmerksamkeit gebraucht hätte. Oder dass die unbelasteten Momente fehlten – das Leben war geprägt von den Schmerzen des Bruders, von den Operationen und
Behandlungen, die dieser auf sich nehmen musste.

Vielleicht deshalb hat Sabrina nur wenig Erinnerung daran, wie sie sich als Kind fühlte: «Ich habe viel verdrängt», vermutet sie. Nur an eines erinnert sie sich: den Eltern vorgeworfen zu haben, den Bruder mehr zu lieben als sie. Aus Erzählungen der Eltern wiederum weiss Sabrina, dass sie als kleines Kind einst nichts mehr essen wollte – bis die Eltern begriffen, dass ihre Tochter wohl noch ebenso beim Essen und Trinken unterstützt werden wollte, wie sie es beim grösseren Bruder sah.

Im Teenageralter kämpft Sabrina plötzlich mit Ängsten, Depressionen, Essstörungen. Als sie 18 ist, sagt ihre Ärztin: «Gell, dir geht es nicht gut?» Sie rät zu Therapie. «Ich hätte schon viel früher eine bekommen sollen», sagt Sabrina heute.

Die Therapie hilft der jungen Frau. Im Zuge weiterer Therapien kommt es zu einer Aussprache mit den Eltern. Vor allem der Vater gibt zu: Man hätte einiges anders machen, mehr Hilfe beanspruchen sollen. Im Rückblick hätte sich Sabrina einen Mutter-Tochter-Tag pro Woche gewünscht, mehr Unterstützung von aussen, mehr Liebe, und auch die Möglichkeit, schon als Kind mit einer Fachperson über ihre Ängste zu reden. Nun hofft sie auf einen Austausch in einer Selbsthilfegruppe und möchte hier auch andere Betroffeneunterstützen.

Selbsthilfegruppen im Aufbau

Die Selbsthilfe Luzern Obwalden Nidwalden bietet zahlreiche Selbsthilfegruppen an. Einige davon sind im Aufbau wie die Gruppe «Geschwister von Menschen mit einer Behinderung». Wer einen Erfahrungsaustausch in geschütztem Rahmen sucht, der Kraft und Mut geben und bei der Suche nach kreativen Lösungen helfen kann, der kann sich unter Tel. 041 210 34 44 melden oder unter mail @selbsthilfeluzern.ch. In den kommenden Wochen stellen wir einige Gruppen im Aufbau vor. (sh)
Weitere Infos:
www.selbsthilfeluzem.ch

Nachgefragt
«Es ist wichtig, in der Familie über Ängste zu reden»

Martina Bosshart, Geschäftsleiterin der Pro Infirmis Geschäftsstelle Luzern, Ob- und Nidwalden, beantwortet zentrale Fragen, die sich für Angehörige von Menschen mit einer Behinderung ergeben.

Welche Unterstützung können Angehörige von (schwerst) behinderten Menschen beanspruchen?

Martina Bosshart: Es gibt eine Vielzahl von Unterstützungsangeboten, ambulante und (teil-) stationäre Angebote, Elternvereinigungen und Selbsthilfe. Auch spezialisierte Fachstellen wie die Frühberatung spielen eine wichtige Rolle. Pro Infirmis
bietet als erste Anlaufstelle für alle Fragen rund um das Thema Behinderung Orientierung. Unsere Beratung ist kostenlos und umfassend. Wir erschliessen auch Finanzierungsmöglichkeiten und leisten bei knappen finanziellen Verhältnissen Direkthilfe.

Werden auch Geschwister unterstützt?

Die Betreuung und Pflege von Kindern mit Behinderung ist eine anspruchsvolle Daueraufgabe. Eltern möchten zudem auch genug Zeit haben für ihre anderen Kinder. Daher ist es wichtig, Unterstützung und Entlastung in Anspruch zu nehmen, bevor die eigenen Ressourcen erschöpft sind. Dazu gehört Unterstützung aus dem privaten Umfeld wie auch die Inan-spruchnahme von Dienstleis-tungen wie Entlastungsdienst oder Spitex. Davon profitieren auch die Geschwister, weil das gesamte System gestärkt wird. Entlastung fördert nachweislich die Lebensqualität aller Familienmitglieder.

Wie wird solcherlei Hilfe finanziert?

Welche Sozialversicherung wann für was aufkommt und
welche Vergünstigungen es sonst noch gibt, ist komplex. Je nach Situation und Dienstleistung (Betreuung ambulant oder stationär, Pflege) kommen andere Kostenträger in Frage: Kanton, Krankenkassen, IV-Stelle etc. Unsere Beratungsstelle zeigt die Möglichkeiten auf und hilft, Ansprüche geltend zu machen.

Welche Hilfe ist emotional und psychisch nötig?

Wichtig finde ich, in der Familie offen über Belastung, Sorgen und Ängste zu sprechen. Jeder Mensch sucht sich zudem seinen eigenen Weg, hat seine eigenen Vertrauenspersonen. Auch in unserer Beratung haben psychosoziale Themen Platz. Daneben gibt es Elternvereinigungen und Selbsthilfegruppen.Der Austausch mit anderenMenschen in einer ähnlichen Situation kann hilfreich sein. Wer professionelle psychologische/psychotherapeutische Hilfe braucht, für den stehen die üblichen Wege (in der Regel über den Hausarzt) offen. Das gilt auch für Geschwister

Wann ist es ratsam, die Pflege abzugeben und sich für ein Heim zu entscheiden?

Diese Frage lässt sich so pauschal nicht beantworten. Immer mehr Familien wünschen sich, dass ihr Kind auch trotz Behinderung im Kreis der Familie aufwachsen kann. Es gibt diverse Zwischenlösungen wie Tages-
strukturen, Wochenenden, Entlastungsdienste etc. Leider entspricht das bestehende Angebot nicht immer den Bedürfnissen der Familien. So fehlt es an
kurzfristigen Entlastungsangeboten.

Finanziert der Staat die Angebote?

Stationäre Angebote werden grundsätzlich vom Kanton finanziert. Die Invalidenversicherung erbringt diverse Leistungen zur Finanzierung von ambulanten Angeboten. Einen Teil zahlen die Eltern selbst. Zahlreiche Familien würden gerne mehr ambulante Unterstützung
in Anspruch nehmen, dochreicht das Geld nicht. Will man die Inklusion fördern, besteht hier Handlungsbedarf.

Ist bei Geschwisterkindern mit Folgen wie Depressionen und Ängsten zu rechnen?

Depressionen und Ängste kommen in allen Familien vor und können auch ganz andere Ursachen haben. Mit einem Geschwister mit Behinderung aufzuwachsen, kann die anderen Kinder auch stark machen und deren Entwicklung fördern.


Martina Bosshart, Pro Infirmis Luzern, Ob-&Nidwalden. Bild: PD

 

Die Eltern hier bauten auf eigene Kosten um. Hätten sie nicht finanzielle Unterstützung beantragen können?

Ja, die Invalidenversicherung (IV) finanziert Umbauten, sofern diese einfach und zweckmässig sind. Das Gesuch ist vorgängig zu stellen. Reichen die finanziellen Mittel der Familie nicht aus, hilft auch Pro Infirmis weiter.(sh)